Wichtiger Bestandteil der Jugendunruhen in den 1980er-Jahren waren Flugblätter. Über 200 davon hat Journalist Silvan Lerch nun im Bildband „Autonomie auf A4“ herausgegeben. Das und mehr im heutigen Rabe-Info – den Podcast gibt’s hier.
Flugblätter der 80er-Bewegung
«Züri brännt» war nicht nur der Name eines Songs und eines Films, sondern auch eine Beschreibung einer Atmosphäre von damals: Das Zürich der frühen 1980er-Jahre brannte zuweilen wortwörtlich, als die Jugend unermüdlich aufmuckte und für ihre Freiräume kämpfte. Statt einem teuren Opernhaus wollte die Bewegung ein AJZ, ein autonomes Jugendzentrum.
Die Geschichte der bewegten Jahre in Form von Flugblättern von damals, erzählt das soeben erschienene Buch Autonomie auf A4 – wie die Zürcher Jugendbewegung Zeichen setzte – Flugblätter 1979-82. Eugen Stiefel, ehemaliger Präsident der Kreisschulpflege Limmattal, hatte über hundert Flugblätter aus der damaligen Zeit gesammelt. Peter Bichsel (Buchantiquariat «Peter Bichsel Fine Books») und Silvan Lerch (Kulturplatz SRF) haben diese Flugblättersammlung ergänzt mit Texten von ehemaligen Flugblattkünstlerinnen und Künstlern – und sie haben sie nun als schweren A4-Blatt-grossen Schunken herausgebracht.
Ebenfalls von der bewegten Jugend erzählt im Moment die Ausstellung 1968 Schweiz im Historischen Museum von Bern. Inforedaktor Michael Spahr hat gemeinsam mit dem Journalisten und Herausgeber Silvan Lerch die Ausstellung besucht. Danach hat er ihn gefragt, ob er Zusammenhänge zwischen der 68er- und 80er-Bewegung entdeckt hat:
Gemeinsam war der 1968-er und der 1980er-Bewegung, dass sich die Jugend in den herrschenden Strukturen gefangen fühlte. Sie wollte ausbrechen aus den bürgerlichen Konventionen, neues ausprobieren und die Welt (wenigstens lokal) verändern, unter anderem mit der Forderung nach Autonomen Jugendzentren – AJZ.
Während die 68er eher intelektuell agierten und kurzfristig nur beschränkt erfolgreich waren, setzten die 80er auf radikale Aktionen, besetzten Häuser, kämpften mit allen kreativen Mitteln und erreichten damit, dass Städte wie Zürich oder Bern nachhaltig verändert wurden. Die Stadtplanungspolitik setzte nicht mehr nur auf kommerzielle Zentren mit hohen Renditen, sondern begann Freiräume zu tolerieren oder sogar aktiv zu fördern. In Zürich bestehen die Rote Fabrik, die Kanzlei und das Dynamo, die damals entstanden, noch immer. In Bern gibt es die Reitschule, das Zaffaraya und die Dampfzentrale, die ebenfalls von der 80er-Bewegung erstritten wurden.
Die Flugblätter waren in einer Zeit als es noch kein Internet, keine Handys und kein Social Media gab, eine wichtige und kostengünstige Möglichkeit zu Demonstrationen oder Veranstaltungen aufzurufen und die politischen Botschaften der Bewegung unter die Leute zu bringen.
Der Fotokopierer spielte Anfang der 1980er-Jahre eine wichtige Rolle. Die Flugblattkünstler*innen konnten dank diesem Gerät rasch und billig ihre Kunstwerke produzieren. Viele arbeiteten tagsüber in irgendwelchen Büros und am Abend, wenn alle gegangen waren, benutzten sie die Fotokopierer. Es soll vorgekommen sein, dass die Kampagnen-Blätter für das millionenteure Opernhaus in Zürich auf dem gleichen Kopierer vervielfältigt wurden, wie die Flugblätter für die Anti-Opernhaus-Demonstrationen.
Verschiedene Do-It-Yourself-Flugblatt-Künstler*innen wurden später zu professionellen Grafiker*innen und Kunstschaffenden. Eine wichtige Inspiration war der Dadaismus, der 1916 ebenfalls in Zürich entstand.
Flugblätter waren – ähnlich wie heute Social Media Posts – für den Moment gedacht. Oft verschwanden sie nach Gebrauch im Abfall. Dank dem Buch Autonomie auf A4 – wie die Zürcher Jugendbewegung Zeichen setzte – Flugblätter 1979-82 konnte dieses Stück Zeitgeschichte nun bewahrt werden und erzählt die spannende Entwicklung der 80er-Bewegung in Zürich, die damals bis Bern, Wien und Berlin ausstrahlte.
Hippies und Jugendunruhen im Museum: 1968 Schweiz
1968 ist nicht einfach eine Jahrzahl, sondern ein Symbol, welches für vieles steht. Für Proteste gegen den Vietnamkrieg, für Frauenbewegung, für Strassenschlachten um mehr Freiräume, für internationale Solidarität. Die 68er lehnen sich auf gegen die Enge einer bürgerlichen Nachkriegsschweiz, eine Schweiz, die von Wirtschaftswachstum und Fortschrittsglaube geprägt ist, eine Schweiz, in der traditionelle Werte und Normen hochgehalten werden sollen. So ist das Zusammenleben ohne Trauschein verboten, homosexuelle Menschen werden polizeilich registriert, Männer mit langen Haaren in Restaurants nicht bedient und Frauen haben keine politische Rechte. Diese spiessbürgerliche Enge ist vielen unerträglich und so lehnt sich eine mehrheitlich junge Generation gegen autoritäre Strukturen und Hierarchien auf, experimentiert mit neuen Wohnformen, Kleidern, freier Liebe und protestiert für mehr Mitspracherecht und Solidarität.
Das Bernische Historische Museum rückt in der Ausstellung 1968 Schweiz diese Ära des Umbruchs und des gesellschaftlichen Wandels ins Zentrum. Gegliedert in politische, kulturelle und alltägliche Aspekte fühlt die Ausstellung den Zeitgeist. Da gibt es Protestplakate zu sehen, Zeitzeugen berichten auf Bildschirmen und Hörstationen, über grosse Leinwände flimmern Collagen aus Fernsehbildern und farbenfrohe Kunstwerke und Inneneinrichtungsgegenstände gewähren Einblick in den damaligen Alltag. Die Ausstellung habe den 68er-Spirit sehr gut getroffen, sagt Bernhard Giger, Leiter des Kornhausforums. Als 16-jähriges «Bubi» verkehrte er selber in der «Junkere 37», einem Kellerlokal in der Berner Altstadt, in welchem Nonkonformisten jeglicher Couleur ein und aus gingen.
Die Wechselausstellung «1968 Schweiz» wird bis am 17. Juni 2018 im Bernischen Historischen Museum gezeigt.
Mehr Bilder zur Ausstellung gibts hier.