Die Journalistin Amal El Mekki berichtet kritisch über die politische Situation in Tunesien – im ZEITSPRUNG beleuchtet sie die Hintergründe eines Selbstmordes, der am 5. September 2018, begangen wurde. Weniger interessiert an der Wahrheit, dafür ein grossartiger Märchenerzähler ist der Performer und Dichter Timmermahn – RaBe hat ihn besucht.
S17 oder wie Tunesien sich von der Demokratie verabschiedet
Vor einem Jahr, am 5. September 2018, verbrannte sich Mohammed Dia in einer tunesischen Stadt. Er wollte nicht mehr in einem «offenen» Gefängnis leben. Er war auf einer sogenannten S17-Grenzschutzmassnahme-Liste gelandet und galt deswegen als potentieller Terrorist. Während drei Jahren wurde er fast täglich von der Polizei belästigt. Das hielt er nicht mehr aus und nahm sich das Leben.
Die S17-Grenzschutzmassnahme wird von der Polizei eingesetzt, um gegen Menschen vorzugehen, die sich der islamistischen Miliz «Islamischer Staat» IS in Libyen oder Syrien anschliessen wollen. Die verfassungsrechtlich umstrittene Massnahme wird aber auch auf andere Personen angewandt, die der tunesischen Regierung nicht genehm sind, worunter Menschenrechtsaktivist*innen. Wer auf der Liste landet, darf nicht mehr ins Ausland reisen, hat innerhalb des Landes weniger Bewegungsfreiheit und wird ständig von der Polizei schikaniert. Fast 100 000 Menschen befinden sich auf den S17-Listen, hat die Journalistin Amal El Mekki herausgefunden. «Die Menschen erfahren erst, dass sie auf einer solchen Liste sind, wenn sie ins Ausland reisen wollen oder wenn sie in eine Polizeikontrolle geraten», erzählt sie im Gespräch mit RaBe. Gestrichen von der Liste werden, konnten nur diejenigen, die der Polizei genug Geld bezahlten. «Stell dir vor, du wärst tatsächlich ein*e Terrorist*in, dann zahlst du einfach viel Geld und danach kannst du überall hin fliegen.»Erst nachdem Amal El Mekki ihre Recherche veröffentlicht hatte, begann das Innenministerium zu handeln und die Menschen auf der Liste zu überprüfen. Doch der Prozess läuft sehr langsam. Die Zeiten sind schwieriger geworden, erzählt Amal El Mekki, die auch als Menschenrechtsaktivistin tätig ist. Tunesien, das als Musterland des «arabischen Frühlings» galt, scheint sich langsam wieder von der Demokratie zu verabschieden. Als Journalistin lebe sie gefährlich, sagt El Mekki. Einige ihrer Kolleg*innen seien im Gefängnis gelandet, weil sie zu kritisch berichtet hatten. Andere würden von der Regierung für eine positive Berichterstattung gekauft. Auch die Korruption habe wieder zugenommen. Vieles sei wieder so schlimm wie zu Zeiten von Diktator Ben Ali, sagt sie.
Neun Jahre nach der Revolution, bei der die damals junge Journalistin mitgekämpft hatte, ist die Situation düsterer geworden. Bei den Präsidentschaftswahlen (15. September 2019) und den Parlamentswahlen (6. Oktober 2019) hätten nur die korrupten säkulären Parteien und die islamistische Ennahda wirklich Chancen, sagt Amal El Mekki: «Alles ist nur noch schwarz oder weiss. Als Journalistin habe ich lieber viele Farben. Denn mit bunten Farben lassen sich Geschichten erzählen. Aber jetzt, wenn alles nur noch schwarz-weiss ist, geht das nicht mehr. Ich bin alarmiert.»
Das RaBe-Interview mit Amal El Mekki:
Amal El Mekki wurde vom ersten internationalen Reportagen Festival nach Bern eingeladen. Ihr Artikel S17: Victims of the Interior Ministry’s Mood wurde nominiert für einen True Story Award.
«Nichts ist so langweilig wie die Wahrheit»
Wenn er wüsste, zu wem es zu beten gälte, würde er stets nur darum beten, dass ihm seine Fantasie erhalten bleibe, sagt Autor, Maler und Performer Timmermahn. Der 77-jährige ist eine sympathisch schillernde Figur in der Schweizer Kunstszene und hat sich nicht nur mit seinen Bildern, sondern vor allem auch als Dichter und Erzähler einen Namen gemacht.
Zurzeit bestreitet Timmermahn zusammen mit Tom Kummer, Patrick Frey und Reeto von Gunten die Veranstaltungsreihe «Märchen am See», wobei er mit kernigem Oberländer-Akzent einmal mehr klar macht, dass ihm die Fantasie bis anhin alles andere als abhanden gekommen ist.
In seiner Geschichte skizziert Timmermahn eine Schulschlussfeier, bei der so einiges aus dem Ruder läuft. Dabei zeigt er viel Lust am Fabulieren und Freude am sprachlichen Experimentieren. Sympathisch schräg ist das Ganze und dabei mit viel Schalk und gesellschaftspolitischer Wachheit vorgetragen. Möge sie ihm noch lange erhalten bleiben, seine geliebte Fantasie!
Kurzinterview mit Timmermahn:
Auszug aus der Schlussfeier der etwas anderen Art:
Märli am Pool, KaWeDe, Bern, DO 5.9.19
Märli am See, Seebad Enge, Züri, 3., 10. Und 11.9.19