Im Hinblick auf das Culturescapes Festival, welches dieses Jahr Polen in den Fokus nimmt, wandeln wir in der heutigen Info-Sendung durch die Strassen Warschaus. Den Podcast gibts hier:
Geschichte und Geschichten am Culturescapes Polen
Eine Kulturlandschaft, die von der Schweiz in den Rest der Welt reicht, baut das Festival Culturescapes seit 2003. In der aktuellen 15. Ausgabe, die am 5. Oktober 2019 in Basel eröffnet wird und dann bis am 6. Dezember 2019 in der ganzen Schweiz zu sehen, hören, riechen, schmecken und spüren ist, heisst das Gastland: Polen. Kulturschaffende aus Polen und polnisch-schweizerische Kooperationen zu den Themen „Geschichte, Protest und Spiritualität“ besuchen 17 Städte – worunter auch Bern.
RaBe war eingeladen einen Vorgeschmack des Festivals zu erhalten und wurde zu einem Ausflug in die polnische Hauptstadt Warschau eingeladen:
Geschichte
Es vergeht fast keine Minute in Warschau, in der Besucher*innen nicht in irgendeiner Form mit Geschichte konfrontiert werden. Da gibt es ganz offensichtlich die Museen. Zum Beispiel Polin, ein sehr modernes und junges Museum, das die Geschichte der Juden in Polen thematisiert und in einer multimedialen Installation darstellt. Sie ist eine der vielen traumatischen Geschichten Polens: im einst liberalen Polen gab es bis vor 80 Jahren dreieinhalb Millionen Juden. Nach der Besetzung durch die deutschen Nazis und deren Vernichtung der jüdischen Bevölkerung waren es gerade mal noch knapp ein Zehntel, rund 300’000.
Ein anderes Thema, das zum Beispiel von den Künstler*innen im Nationalmuseum thematisiert wird, ist die Jahrhunderte lange Fremdbestimmung. Vor 1919 war Polen über hundert Jahre gespalten in einen von russischen, preussischen und österreich-ungarischen Monarchen regierten Teil. In Malereien des 19. Jahrhunderts wird ein vereinigtes und unabhängiges Polen dargestellt. Die Unabhängigkeit kam 1918 nur für kurze Zeit. Nach der deutschen Besetzung während dem 2. Weltkrieg kam die sowjetische Dominanz während dem Kalten Krieg. In den Achtzigerjahren wehrte sich die gewerkschaftliche Solidarność Bewegung gegen das kommunistische Regime – fast zehn Jahre vor 1989, als der eiserne Vorhang fiel. Danach kam die Demokratie und 2004 der Beitritt zur EU, einhergehend mit einem Wirtschaftswachstum, das kaum gebremst bis heute anhält.
Schon in den Fünfzigerjahren nach dem Tod Stalins wehte eine Brise der Freiheit durch Polen und führte unter anderem dazu, dass das wichtigste Festival für Neue Musik entstehen konnte: Warschauer Herbst. Das Festival fand 2019 zum 62. Mal statt und hatte unter anderem eine Culturescapes-Produktion im Programm, in der die Basel Sinfonietta Werke von jungen polnischen Komponisten spielte:
Die Schweiz und Polen feiern 2019 das 100 Jahre Jubiläum der diplomatischen Beziehungen, was mitunter ein Grund ist, warum Polen 2019 Gastland am Culturescapes Festival geworden ist. Der Schweizer Botschafter in Polen, Jürg Stephan Burri, hat mit RaBe über die Beziehungen der beiden Länder gesprochen:
Protest
Viele Leute, die RaBe in Warschau trifft, erzählen, das Land sei heute wieder gespalten: in ein Lager, das hinter der erzkonservativen PiS-Regierung steht, und ein Lager, das gegen die PiS ist und eher liberal oder links tickt. Am 13. Oktober 2019 sind Wahlen und die Chancen sind gross, dass die PiS wieder gewinnt. Gegen zahlreiche politische Beschlüsse der PiS-Regierung gab es Protestaktionen. Protest – sei es der Warschauer Aufstand gegen die Nazis, die Solidarność Bewegung gegen den Sowjetkommunismus oder aktuelle Proteste – gehören zur polnischen Tradition, sagt Jurriaan Cooiman, Gründer und Leiter des Culturescapes Festival zu RaBe.
Sowohl die Medienfreiheit als auch die Kunstfreiheit sei in Polen nach wie vor gewährleistet, betonen viele Menschen, mit denen RaBe in Warschau spricht. Trotzdem wächst der Einfluss der Regierung in der Kulturwelt, was dazu führt, dass die konservativen Ansichten der Regierung in die Kunstwelt einfliessen können. Zum Beispiel gibt es ein bekanntes Kunstwerk der Künstlerin Natalia LL, die sich in den Siebzigerjahren beim Genuss einer Banane filmen liess. Ein sehr erotisches Video, das diesen Frühling aus dem Nationalmuseum entfernt wurde, nachdem das Museum einen neuen Direktor erhielt, welcher der erzkonservativen Regierung nahe steht:
Es gab eine Protestwelle. Menschen begannen demonstrativ Bananen zu essen oder Bananen-Selfies von sich zu veröffentlichen. Der Museumsdirektor musste das Video wieder ins Museum stellen, änderte aber die Ausstellung kurz danach komplett – ohne das Werk von Natalia LL. Dafür hängt jetzt ein Stilleben mit Bananen, an der Stelle, wo das umstrittene Video einst lief. Der Museumsdirektor schien diese stille Form des Protests seines Kurator*innenteams akzeptiert zu haben.
In vielen Werken, die im Culturescapes Festival gezeigt werden, wird die polnische Protestkultur reflektiert. Jurriaan Cooiman, Gründer und Leiter des Culturescapes Festival, hat mit RaBe über das aktuelle, aber auch über vergangene und zukünftige Festivals gesprochen:
Spiritualität
Das besondere an Polen ist, dass es im Unterschied zu den meisten anderen ehemaligen Ostblock-Ländern immer noch sehr religiös ist. 87 Prozent der Bevölkerung bezeichnen sich als katholisch. Spiritualität, auch für nicht religiöse Menschen, ist ein wichtiger Teil des polnischen Alltags. In Polen werden im Unterschied zu Westeuropa immer noch Kirchen gebaut, statt geschlossen oder umfunktioniert.
Spiritualität fliesst auch in das Werk des Theaterregisseurs und Performance Künstlers Wojtek Ziemilski. Er hat für das Culturescapes Festival ein gewagtes Projekt ins Leben gerufen. Er hat mit dem Schweizer Parfumeur Andreas Wilhelm ein Parfum entwickelt: „The Essence of Poland“ – übersetzbar sowohl als das Wesen oder der Duft von Polen. „Es ist ein faszinierender, kräftiger und komplexer Duft. Für alle Geschlechter. Der sich vor allem am Abend für den Ausgang eignet. Das Wesen von Polen in einen Duft zu bringen, war eine sehr abstrakte und auch völlig unmögliche Idee. Ich habe dann meine persönlichen Düfte gesammelt, die gleichzeitig einen Bezug zu Polen schaffen. Die Berge zum Beispiel, die aus Granit sind. Oder Kieselsteine und Schlamm. Schneebeeren. Der Geruch des Hauses meiner Grosseltern. Altes Holz und der Rauch des Kamins. Lippenstift und Gurken. Es ist wie eine Karte von Polen. Zuerst scheint die Karte sehr chaotisch – dann spürt man die Essenz von Polen“, sagt Similski im Gespräch mit RaBe. 101 Flaschen werden am Culturescapes Festival verkauft und enthalten einen Link zu einer Webseite, wo die Geschichte des Parfums erzählt wird.
Polen ist ein Land mit vielen Widersprüchen und tiefen Abgründen in der Geschichte. Gleichzeitig ist es ein unheimlich reiches Land an Kultur. Das Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte hat dazu geführt, dass Städte wie Warschau heute mit moderner Architektur auftrumpfen können, obwohl hinter der Modernität immer wieder Elemente eines konservativen Katholizismus zu spüren sind. Dank der Geschichte, dank der Protestkultur und auch dank der Spiritualität, die das Culturescapes Festival einem Schweizer Publikum näher bringen will, bringen polnische Kulturschaffende ein wahnsinniges Werk mit, das es wert ist, zu entdecken – vom 5. Oktober bis am 6. Dezember 2019 am Culturescapes Festival in Basel, Bern, Zürich und anderen Städten oder im Alltag von Polen.
Die Reise von Radio Bern RaBe (Michael Spahr) und Radio X Basel (Rebecca Häusel) nach Warschau wurde dank dem Culturecapes Festival ermöglicht und wurde unterstützt von der polnischen Kulturförderstelle Adam-Mickiewicz-Institut.