Vor der europäischen Haustüre spielt sich eine menschliche Tragödie ab, denn seit 2001 sind rund 30’000 Menschen auf der Flucht kläglich im Mittelmeer ertrunken. Oftmals werden diese toten Bootsflüchtlinge nicht identifiziert, sondern namenlos begraben; ihre Verwandten erfahren nie, was mit ihren Liebsten geschehen ist.
Dagegen macht sich die Forensikerin und Professorin für Rechtsmedizin Cristina Cattaneo stark. Mit zwei Pilotprojekten treibt die 56-jährige Italienerin unermüdlich die Identifizierung von ertrunkenen Menschen voran, damit die Toten nicht Nummern bleiben, sondern Namen erhalten und so zumindest ein kleines bisschen Würde zurückerhalten. Ihre Arbeit sei aber vor allem auch den Hinterbliebenen gewidmet, sagt Cattaneo, denn diese hätten ein Recht zu erfahren, was mit ihren Verwandten geschehen sei.
Im soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Buch «Namen statt Nummern» gewährt Cristina Cattaneo Einblick in ihre Arbeit. Eindrücklich und berührend schildert sie, mit welchen Hindernissen sie und ihr Team sich konfrontiert sehen und welche bürokratischen Hürden es zu überwinden galt, bis überhaupt erst eine Datenbank angelegt werden konnte. Zudem gibt sie Einblick in Methoden, welche zur Identifizierung von Leichen herangezogen werden.
Wenn in Europa ein Flugzeug abstürze, würden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Toten so schnell als möglich zu bergen, zu identifizieren und den Verwandten zu übergeben. Wenn im Mittelmeer ein Schiff mit geflüchteten Menschen gesunken sei, habe lange Zeit kein Hahn danach gekräht, sagt Cristina Cattaneo, und das dürfe ja wohl nicht sein.
«Namen statt Nummern» macht deutlich: die Arbeit von Cattaneo und ihrem Team ist von unermesslichem menschlichem Wert. Es ist nicht zuletzt dem unermüdlichen Aktivismus der Wissenschaftlerin zu verdanken, dass die italienische Marine 2015 ein Wrack eines gesunkenen Flüchtlingsschiffes aus fast 400 Metern Tiefe barg. Das sei ein starkes Zeichen gewesen, sagt Cattaneo, weil zum ersten Mal ein Schiff so behandelt worden sei, als wäre es voller europäischer Opfer.
Cristina Cattaneo, «Namen statt Nummern», Rotpunktverlag (2020)