Die Untersuchungsgefängnisse der Schweiz haben international einen schlechten Ruf. Kaum Licht, kaum Bewegung, kaum private Kontakte. Und das obwohl für die Insassen die Unschuldsvermutung gilt. Wir haben recherchiert, was hinter den hohen Mauern vis à vis vom Kustmuseum Bern vor sich geht.
Den Podcast zur Sendung gibt’s hier:
Unmenschliche Haftbedingungen im Regionalgefängnis Bern
Das Regionalgefängnis Bern befindet sich in der Innenstadt, ziemlich genau zwischen der Reitschule und dem Progr. Es ist gut getarnt – wer es nicht kennt, wird beim Stadtbummel nicht ahnen, dass in der Nähe rund 130 Personen inhaftiert sind.
Dabei ist das Regionalgefängnis Bern eine wichtige Institution im Kanton Bern und eine Drehscheibe für den Berner Strafvollzug. Vor allem Untersuchungshaften werden hier durchgeführt, viele Personen bleiben nur für kurze Zeit dort und werden dann weitergeleitet an andere Institutionen.
In den letzten Jahren wurde das Regionalgefängnis immer wieder scharf kritisiert. Die Zellen seien zu klein, die Inhaftierten über zwanzig Stunden pro Tag in Ihren Zellen eingeschlossen. Eine Stunde könnten die Inhaftierten spazieren, jedoch sei der Spazierhof klein und biete kein Tageslicht.
Radio RaBe hat sich dem Thema angenommen: Wie steht es wirklich um die Haftbedingungen im Regionalgefängnis Bern? Werden Inhaftierte genügend betreut?
Was hat sich in den letzten Jahren verändert? Sarah Heinzmann hat bei gut einem Dutzend Personen nachgefragt, die direkt oder indirekt mit dem Regionalgefängnis Bern zu tun haben.
Einer von ihnen ist David Mühlemann, Leiter der Fachstelle Freiheitsentzug bei Humanrights.ch. Mühlemann berät des Öfteren Inhaftierte und Angehörige von Inhaftierten im Regionalgefängnis Bern. «Die Situation im RG Bern ist schon länger sehr problematisch. Die Haftbedingungen sind sehr restriktiv – dies ist riskant für die Personen, die inhaftiert sind, sowohl psychisch, mental wie auch physisch», sagt David Mühlemann. Das Gebäude tauge nicht mehr, Menschen würdig für längere Zeit unterzubringen. Es sei sehr düster, es fehle an Licht und der Kontakt zu Angehörigen erfolge hinter einer Trennscheibe. Dies sei belastend für Inhaftierte. «Meines Erachtens sind das unwürdige Bedingungen. Für diese Personen gilt die Unschuldsvermutung – wer in der Untersuchungshaft ist, ist noch nicht rechtskräftig verurteilt. Deswegen ist völlig unverhältnismässig, solche restriktiven Haftbedingungen anzuwenden», sagt David Mühlemann gegenüber Radio RaBe.
Leo Näf ist Vize-Präsident der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter NKVF und hat das Regionalgefängnis Bern schon mehrmals besucht. In drei Berichten dokumentiert die NKVF die Situation im Regionalgefängnis. «Die NKVF schaut die sogenannten materiellen Haftbedingungen an. Und da haben wir schon immer festgestellt, dass bezüglich Luftzufuhr und Lichtverhältnissen im Regionalgefängnis Bern mangelhafte und kritikwürdige Punkte gibt», sagt Leo Näf gegenüber Radio RaBe. Die Luft in den Zellen sei gerade im Hochsommer oft sehr stickig. Zudem würden viele Zellen über wenig Tageslicht verfügen. Deswegen empfiehlt die NKVF keine längerfristigen Unterbringungen im Regionalgefängnis Bern. Unterbringungen von mehr als sechs Monaten im Regionalgefängnis Bern werte er kritisch, erklärt Leo Näf.
Radio RaBe hat beim Amt für Justizvollzug des Kantons nachgefragt und eine aktuelle Belegungsstatistik des Regionalgefängnisses Bern verlangt. Die Zahlen zeigen: Viele Menschen sind länger im Regionalgefängnis Bern inhaftiert. Im Dezember 2020 waren 18 Personen länger als sechs Monate inhaftiert, zwei Personen länger als ein Jahr und eine Person gar länger als fünf Jahre. Für Leo Näf von der NKVF ist dies besorgniserregend, denn für Personen in Untersuchungshaft gelte nämlich grundsätzlich die Unschuldsvermutung.
Im Regionalgefängnis Bern werden Menschen also länger inhaftiert, als dass die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter empfiehlt. Die Direktorin des Regionalgefängnisses Bern weist die Verantwortung für diese Missstände von sich. Die Leitung des Gefängnisses habe keinen Einfluss darauf, wie lange die Personen inhaftiert seien. Sie würden lediglich die angeordneten Inhaftierungen ausführen, sagt Monika Kummer gegenüber Radio RaBe. «Wir können nicht steuern, wie schnell die Staatsanwaltschaften oder die Gerichte arbeiten», so die Gefängnisdirektorin.
Die Kritikpunkte der NKVF würden ernst genommen, so sei das Lichtsystem verbessert worden und nächstes Jahr solle die Belüftungsanlage renoviert werden. Auch der Spazierhof sei gelb gestrichen worden, um dem kargen Raum ein freundlicheres Ambiente zu geben.
Zudem bemühe man sich, dass die Inhaftierten drei statt nur eine Stunde ausserhalb der Zellen verbringen können, sagt Monika Kummer.
Zögerlich: Regorganisation der Untersuchungshaft im Kanton Bern
Ob das Regionalgefängnis Bern nach diesen Anpassungen für längerfristige Unterbringungen geeignet ist, bleibt jedoch fraglich. In der Justizvollzugsstrategie des Amtes für Justizvollzug des Kantons Bern hat das Regionalgefängnis Bern keine Priorität. Eine Sanierung und eine eventuelle Haftplatzreduktion sei erst ab 2025 angedacht, sagt Pascal Ludin gegenüber Radio RaBe. Er ist Leiter des Geschäftsfeldes Haft des Amtes für Justizvollzug und somit verantwortlich für den Vollzug von Untersuchungs-, Sicherheits- und Administrativhaft im Kanton Bern.
Der Kanton Bern habe aber in den letzten Jahren Strategien entwickelt, wie die Untersuchungshaft etwas humaner ablaufen könne. So sollen sich Inhaftierte neuerdings drei Stunden pro Tag ausserhalb der Zellen aufhalten können, und die Inhaftierten sollen besser sozial begleitet werden, sagt Pascal Ludin.
Dies ist wichtig, denn die Untersuchungshaft ist aus menschenrechtlicher Sicht heikel: Personen werden inhaftiert, obwohl sie noch gar nicht verurteilt wurden – für sie gilt die Unschuldsvermutung. Weil die Flucht- und Vertuschungsgefahr minimiert werden sollen, ist das Regime in der Untersuchungshaft jedoch besonders strickt. Dieses strickte Regime sei häufig unverhältnismäßig, kritisiert etwa die Menschenrechtsorganisation humanrights.ch.
Um dem entgegenzuwirken, soll im Kanton Bern ein sogenanntes Zweistufensystem eingeführt werden. Nach einer ersten strickten Einführungsphase solle die Untersuchungshaft in ein lockereres Regime übergehen, solange es keine Flucht- oder Vertuschungsgefahr gebe, wie Pascal Ludin im Gespräch mit Radio RaBe ausführt.
23 Stunden Einzelhaft trotz psychischer Erkrankung: Der Fall Raphael Kiener
Der Kanton Bern hat Sanierungen und ein verändertes Haftregime im Regionalgefängnis Bern geplant. Da bis zur Umsetzung jedoch noch einige Jahre vergehen werden, bleiben die Haftbedingungen vorerst problematisch. Besonders belastend ist dies für Personen mit psychischen Vorbelastungen. «Es kommt immer wieder vor, dass psychisch beeinträchtige Menschen in diesen Settings inhaftiert werden. Das ist eigentlich ein latentes Risiko», sagt David Mühlemann von humanrights.ch.
Solche latenten Risiken können zu Worst Case-Szenarien eskalieren, wie dies bei Raphael Kiener geschah. Raphael Kiener wurde vor zwei Jahren in das Regionalgefängnis Bern gebracht. Sieben Monate war er in Untersuchungshaft. Währenddessen verschlechterte sich seine psychische Verfassung drastisch und er musste in eine Psychiatrie eingewiesen werden.
In der Psychiatrie nahm sich Raphael Kiener das Leben. Der damals 25-jährige war schon vor seinem Eintritt ins Regionalgefängnis Bern mit einer paranoiden Schizophrenie diagnostiziert. Trotzdem wurde er mehrere Monate 23 Stunden am Tag in Einzelhaft gehalten. Die Wochenzeitung WOZ hat über den Fall berichtet.
Vor seiner Verhaftung war Raphael Kiener bei Radio loco-motivo aktiv, eine RaBe-Sendung von und für Betroffene, Angehörige und Berufsleute aus der Psychiatrie. «Raphael ging es bei Eintritt ins Regionalgefängnis Bern nicht so schlecht. Er war in einer Situation, wo es wieder bergauf ging mit ihm», sagt Sebastian Birrer, Vater von Raphael gegenüber Radio RaBe. Doch dann: Verhaftung, Inhaftierung, 23 Stunden Zelleneinschluss, und dies während sieben Monaten.
Psychisch kranke Personen in diesem Setting zu inhaftieren, sei keine Seltenheit, bestätigt Monika Kummer, Direktorin des Regionalgefängnisses Bern. «Wir haben sehr viele psychisch auffällige oder kranke Personen. Die werden medizinisch-psychiatrisch betreut.»
Raphael Kiener ging es im Regionalgefängnis je länger je schlechter, erinnert sich Sebastian Birrer. «Raphael hat sich psychisch verändert während des Gefängnisaufenthaltes. Das sah man an Briefen, die Raphael uns geschickt hat – diese waren abstrus. Da habe ich auch als Arzt gesehen: jetzt passiert wieder etwas, jetzt geht es ihm psychisch wieder schlechter. Aber die vom Gefängnis haben einfach gesagt, wie können nicht jede Person anschauen, sie hätten zu viele Insassen, da können sie nicht auf die einzelne Person eingehen.» Schlussendlich wurde Raphael Kiener in die psychiatrische Abteilung Etoine eingeliefert, wo er sich das Leben nahm.
Laut David Mühlebach von humanrights.ch hätten beim Fall Kiener alle Alarmglocken läuten müssen. «Eine psychisch kranke Person 23 Stunden am Tag einzuschliessen, das widerspricht doch jedem gesunden Menschenverstand!». Die Direktion habe ihre Sorgfaltspflichten nicht erfüllt. Monika Kummer, Direktorin des Regionalgefängnisses weist diese Anschuldigungen zurück. Der Fall Kiener sei nach einem bewährten Schema abgelaufen, es habe von Seiten des Regionalgefängnisses keine Fehler gegeben.
Die Eltern von Raphael Kiener bedauern, dass das Gefängnis nicht von diesem Fall lernen wolle. Auch die Staatsanwaltschaft, die Untersuchungshaften verordnet, solle solche Fälle genauer untersuchen, um sie in Zukunft zu vermeiden, sagt Sebastian Birrer: «Es gibt viel Routine, aber in solchen Fällen sollte der Staatsanwalt vorsichtiger sein und die Augen und Ohren mehr offen halten – einfach, dass das nicht mehr so kommt, wie es jetzt gekommen ist,» sagt Sebastian Birrer im Gespräch mit RaBe:
Die Beiträge zur Serie „U-Haft – Ein traumatisches Erlebnis“ hat Redaktorin Sarah Heinzmann recherchiert und gestaltet.