Die Tour de Lorraine sorgt jedes Jahr für Gesprächsstoff in der Stadt Bern. Besonders die lange Nacht der Konzerte und Partys in rund 20 Lokalen auf beiden Seiten der Lorrainebrücke ist ein Highlight im Berner Kulturkalender. Entstanden ist das Widerstandsfest aus den Protesten gegen das World Economic Forum «WEF» im Jahr 2000. Seither hat sich die Tour de Lorraine als Politfestival etabliert, die gesamten Einnahmen der Partys gehen an politische Projekte.
Passend zum Thema der jeweiligen Tour gibt es ein Programm aus Workshops, Podiumsdiskussionen, Ausstellungen, Filmen, Theater oder Demo. Dieses Jahr läuft die Tour de Lorraine unter dem Titel: «Tour Décolonial – Köpfe und Herzen dekolonialisieren». Timo Righetti und Meret Oehen vom Organisationskollektiv der Tour de Lorraine 2021 waren bei uns im Studio zu Gast und haben erzählt, was es mit dem Titel und dem Programm auf sich hat. Der Auftakt zu unserer Info-Serie zum Thema Dekolonialisierung.
Die Tour de Lorraine findet vom 30. April 2021 – 13. Mai 2021 statt. Viele Veranstaltungen finden online statt, für einige ist eine Anmeldung erforderlich.
Rassismus in Lehrmitteln
Eigentlich gibt es ein Recht auf diskriminierungsfreie Bildung, doch noch immer reproduzieren viele Schweizer Lehrmittel rassistisches Gedankengut. Manche würden eine rassistische Bild- und Wortsprache – wie zum Beispiel das N-Wort – verwenden, einige bildeten Menschen in stereotypen Kontexten ab. Und in fast allen Büchern fehle die Darstellung von Kindern, deren Familie eine Migrationsgeschichte hat. Zu diesem Schluss kommt die Broschüre Einblick: Rassismus in Lehrmitteln, verfasst von Rahel El-Maawi und Mandy Abou Shoak.
«Viele Kinder of Colour verinnerlichen, dass sie weniger Wert seien. Die Konfrontation mit solchen Bildern schwächt sie in ihrer schulischen Leistung und ihrem Selbstwertgefühl», erklärt El-Maawi im Interview mit RaBe.
Die Broschüre sei aus einer zivilgesellschaftlichen Initiative heraus entstanden. Die Verfasserinnen wollten den betroffenen Kinder of Colour und ihren Eltern ein Argumentarium zur Verfügung stellen, so dass diese stetig wiederholte Rassismen an der Schule thematisieren können.
Lehrmittelverlage, welche die analysierten Bücher publizierten, zeigten sich grundsätzlich offen für die Kritik. «Sie sagen, dass sie in einem Prozess seien und sich Lehrmitteln ändern werden». Trotzdem würden die selben Bücher immer wieder aufgelegt, auch zum Unmut von vielen Lehrpersonen, so El-Maawi. Diesen gibt sie die Möglichkeit zum zivilen Ungehorsam mit auf den Weg: «Man könnte ja die betroffenen Seiten einfach zusammenleimen.»
Rahel El-Maawi und Mandy Abou Shoak sind an der Tour de Lorraine zu Gast. Am kommenden Mittwoch, 5. Mai, um 19.30 Uhr sprechen sie online über Rassismus in Lehrmitteln. Eine Anmeldung ist erforderlich.
Eine Reise durch den Balkan
Abinaya Maheswaran und Nadia Hamouda sind 2015 durch den Balkan gereist. Zwei junge Frauen,
heute medizinisches Personal, die in der Schweiz aufgewachsen sind, beide mit Migrationshintergrund. Nadia Hamouda hat den Schweizer Pass, Abinaya Maheswaran einen tamilischen Pass und einen dazugehörigen C Ausweis – eine Niederlassungsbewilligung, die jeweils nach fünf neu beantragt werden muss. Ein Ausweis und eine Herkunft, die das Reisen durch den Osten Europas zu einem Albtraum werden liessen.
Der Plan: Mit dem Flieger nach Istanbul, per Zug nach Thessaloniki, über Athen nach Skopje, dann nach Belgrad, Zagreb und Ljubljana. Ein Reisebericht zweier Freundinnen mit unterschiedlicher Hautfarbe.
Teil I: Kein Einlass in Istanbul
Teil II: Über die nordmazedonische Grenze
Teil III: Auf dem Weg nach Belgrad
Den ursprünglich getexteten Reisebericht von Abinaya Maheswaran und Nadia Hamouda gibt es in der Zeitschrift antidotincl. zur Tour de Lorraine 2021 zu lesen.
African Mirror – weisser Blick auf Afrika
«Tour Décolonial – Köpfe und Herzen dekolonialisieren» – unter diesem Motto findet derzeit die Tour de Lorraine statt. Passend dazu zeigt das Kino der Reitschule ab 1. Mai eine Reihe mit insgesamt sieben Filmen, die sich alle in irgendeiner Form um die Folgen von Kolonisation bzw. Dekolonisation drehen.
Zu sehen gibts auch African Mirror (2019) von Mischa Hedinger, wofür dieser Material eines anderen Filmemachers zu einer Collage zusammengeschnitten hat: Bilder, Filmausschnitte, Tonaufnahmen, Tagebucheinträge, Briefe und Zeitungsartikel von René Gardi.
1909 in Bern geboren bereiste Gardi über 30 Mal den afrikanischen Kontinenten, wobei es ihm insbesondere der Norden Kameruns angetan hatte. Gardi brachte eine Unmenge an Bildern und Filmmaterial mit nach Hause, das er in Büchern, Artikeln und Vorträgen öffentlich machte. Ab 1958 hatte er mit «Gardi erzählt» sogar eine eigne Fernsehsendung, in der er über das Leben der «scheuen Wilden» berichtete.
Also Gardi im Jahre 2000 starb, hinterliess er einen immensen Fundus. Daraus schuf Mischa Hedinger «African Mirror», eine Collage, die den idealisierenden und rassistischen weissen Blick Gardis auf den afrikanischen Kontinenten verrät. Dieser half bei seinen «dokumentarischen» Filmstudien auch öfters nach, wenn die Realität nicht seinen Vorstellungen entsprach. Dabei kommen die porträtierten Menschen selber kaum zu Wort, sie bleiben Projektionsflächen und (gerne auch nackte) Körper.
Auch wenn Gardis Inszenierungen schon in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht mehr der Realität entsprachen, so prägten dessen Filme und Vorträge doch entscheidend das Bild mit, das Herr und Frau Schweizer damals vom Leben auf dem afrikanischen Kontinenten hatten.
Filmreihe im Kino der Reitschule
01.05.2021, Samstag, 21.00 Uhr: La battaglia di Algeri
06.05.2021, Donnerstag, 19.30 Uhr: No Apologies
06.05.2021, Donnerstag, 21.00 Uhr: Bounty
07.05.2021, Freitag, 19.30 Uhr: African Mirror
07.05.2021, Freitag, 21.30 Uhr: Ouvrir la voix
08.05.2021, Freitag, 19.30 Uhr: No Apologies
08.05.2021, Freitag, 21.00 Uhr: Bounty
«Auch die Schweiz profitiert vom Kolonialismus»
Im Gegensatz zu Frankreich, Grossbritannien oder Deutschland schickte sich die Schweiz nie an, Gebiete auf fernen Kontinenten für sich zu beanspruchen. Trotzdem profitierte sie massiv vom Kolonialismus, wie Elango Kanakasundaram von Multiwatch im Interview mit RaBe erklärt. «Die Gebrüder Volkart zum Beispiel betrieben im 19. und 20. Jahrhundert einen Handelskonzern, der Waren wie Baumwolle, Kaffee, Tee und Gewürze aus Indien und Sri Lanka importierte.» Auch Schweizer Unternehmen hätten sich also die ausbeuterischen Bedingungen im globalen Süden zu Nutze gemacht. «In dieser Zeit wurde ein enormer Reichtum aufgebaut, von welchem die Schweiz noch immer zehren kann», so Kanakasundaram und verweist auf die Gründung verschiedener Banken, welche dann wiederum der Schweiz dazu verhalfen, eine Rohstoffdrehscheibe zu werden.
Noch heute übten multinationale Konzerne mit Sitz in der Schweiz eine grosse Macht auf die Politik aus, sie profitieren zum Beispiel von einem tiefen Steuersatz auf ihren Gewinnen. Die Konzernverantwortungsinitiative ist zwar letzten Herbst am Ständemehr gescheitert, trotzdem sei sie ein Erfolg gewesen, an welchen jetzt ein neues Projekt von Multiwatch anknüpfen will. Mit einem Handbuch und einem Lehrgang will die Organisation Menschen aus der Zivilbevölkerung befähigen, selber zu den Machenschaften der Schweizer Konzerne zu recherchieren, sagt Kanakasundaram.
Der Workshop mit dem Titel «Schweizer Konzerne zur Verantwortung ziehen» findet am Samstag, 8. Mai um 10.00 Uhr im Rahmen der diesjährigen Tour de Lorraine statt. Hier geht’s zur Anmeldung.