Heute setzen wir uns im Info mit der Situation von geflüchteten Menschen auf den griechischen Inseln auseinander und beleuchten dabei auch einen Prozess, welcher sechs von ihnen für Jahre hinter Gitter verbannte.
Ärzte ohne Grenzen MSF schlägt Alarm
Letzte Woche veröffentlichte Ärzte ohne Grenzen / Médecins sans frontières MSF einen Bericht über die Situation von geflüchteten Menschen in Griechenland. Weit über 1000 Menschen habe die Organisation in den letzten zwei Jahren behandeln müssen wegen psychischen Problemen. Seit mehr als fünf Jahren erzeuge die Politik der europäischen Länder und der EU eine beispiellose Krise und enormes menschliches Leid, kritisiert MSF.
Im März 2016 schloss die EU mit der Türkei den sogenannten «Deal». Seither verfolgt Griechenland die Strategie der Hotspots, also dass alle Geflüchteten in Lager kommen, auf fünf verschiedenen Inseln: Namentlich Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos. Laut dem Bericht gäbe es in den Camps auf diesen Inseln «enormes menschliches Leid».
Im Moment seien weniger Menschen Inseln als vor rund einem Jahr, damals wurden rund 40’000 dort festgehalten, jetzt sind es noch ca. 10’000. «Leider hat das aber nicht zu einer Entspannung oder zu einer besseren Situation der Menschen vor Ort geführt», erklärt Sibylle Berger von MSF im Interview mit RaBe. «Es gibt immer noch nicht wirklich Zugang zu medizinischer Versorgung, wir sehen immer noch sehr viele Menschen, die stark leiden unter dem Eingesperrtsein, unter der Hoffnungslosigkeit und den intransparenten Asylverfahren.»
Politisches Urteil im Moria-Prozess
Es gibt viele Hinweise, dass sowohl der Prozess als auch das Urteil gegen die vier Geflüchteten aus Afghanistan politisch motiviert waren, sagt die Berner Anwältin Annina Mullis. Letzte Woche reiste Mullis auf die griechische Insel Chios, um als Prozessbeobachterin der Demokratischen Jurist*innen Schweiz und der Europäischen Jurist*innen für Demokratie und Menschenrechte dem Moria-Prozess beizuwohnen.
Vier ehemalige Bewohnende des Flüchtlingslagers Moria waren angeklagt, wegen angeblicher Brandstiftung und Gefährdung menschlichen Lebens. Das Gericht in Chios verurteilte sie zu je 10 Jahren Haft. Zwei weitere wurden bereits im März 2021 vor dem Jugendstrafgericht zu 5 Jahren Haft verurteilt.
Der Prozess fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die offizielle Begründung, es handle sich hierbei um Corona-Schutzmassnahmen hält Mullis für einen Vorwand, habe doch das Gericht den Antrag abgelehnt, einige der zahlreichen Polizist*innen im Raum gegen einzelne Beobachter*innen oder Medienschaffende auszuwechseln. Strafverfahren seien grundsätzlich öffentlich, kritisiert Mullis, und eine indirekte Teilnahme zum Beispiel mittels einer Video-Übertragung in andere Räume wäre problemlos möglich gewesen.
Nach Gesprächen mit Zeug*innen und den Anwältinnen kommt Mullis zum Schluss, dass das Ziel des Prozesses nicht darin bestanden haben kann, die tatsächliche Ursache für den verheerenden Brand ausfindig zu machen, sondern die sechs Geflüchteten aus Afghanistan für die Brände verantwortlich zu machen.
Laut den Anwältinnen habe das Gericht denn auch jegliche Versuche über die verheerenden, menschenunwürdigen Zustände im Flüchtlingslager vor dem Brand zu sprechen, systematisch abgeblockt.
Weiter kritisiert Annina Mullis, dass sich sowohl die Anklage als auch das Urteil auf eine sehr dünne Beweislage stützen. 31 Zeug*innen habe die Anklage geladen, rund die Hälfte sei vor Gericht erschienen. Keine einzige dieser 15 Personen konnte jedoch die Angeklagten identifizieren, geschweige denn ihnen konkrete Handlungen zuordnen. Die Anklage stützte sich im Prozess auf die Aussagen eines einzigen, ehemaligen Bewohners des Flüchtlingscamps. Der sei mittlerweile jedoch verschwunden, womit die Verteidigung auch keine Möglichkeit gehabt habe, ihm irgendwelche Fragen zu stellen. Den Antrag, seine Aussage folglich im Prozess nicht zu berücksichtigen, habe das Gericht abgelehnt.
Die vier Angeklagten haben umgehend Berufung eingelegt. Laut Annina Mullis stehen die Chancen gut, dass zumindest der europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Urteil kippen wird. Bis alle Instanzen durchlaufen sind, könnten allerdings Jahre vergehen, und solange bleiben die vier Geflüchteten aus Afghanistan in Haft.