Die Angeklagten im Effy-Prozess, die sich bei der Räumung im Februar 2017 in der Liegenschaft an der Effingerstrasse 29 in Bern befanden, wurden heute Morgen vom Regionalgericht Bern-Mittelland vom Vorwuf der Drohung gegen Behörden und Beamte freigesprochen. Schuldig sind sie lediglich des Hausfriedensbruchs. Die sechzehn Personen wurden zu unterschiedlich hohen Geldstrafen verurteilt, nur einer der Angeklagten muss die Strafe unbedingt bezahlen, aufgrund seiner Vorstrafen. Die von den Besetzer*innen befürchteten Freiheitsstrafen wurden nicht verhängt, die Erleichterung unter den Angeklagten und ihren Begleitpersonen war deutlich zu spüren.
Die Urteilsverkündung nach drei Wochen Prozess
Nach fast drei Wochen Prozess rund um die Hausbesetzung an der Effingerstrasse 29, eröffnete die Einzelrichterin Bettina Bochsler heute Morgen das Urteil des Regionalgerichts Bern-Mittelland. Die Stimmung unter den Angeklagten und ihren Begleiter*innen um 8 Uhr früh vor dem Amtshaus war ruhig und nüchtern, niemand wusste, was jetzt kommen würde. Bis zum Schluss des Prozesses rechnete man auf der Beschuldigtenseite mit dem Schlimmsten und hoffte auf das Beste. Wie schon zu Beginn des Prozesses klar gewesen war, würden die im Raum stehenden Freiheitsstrafen für einige der Angeklagten, stehen oder fallen mit dem Urteil über die Erfüllung des Straftatbestands der Gewalt und Drohung gegen Beamte.
Um 8.30 Uhr eröffnete Richterin Bochsler die Sitzung mit einem kurzen Abriss darüber, was bisher geschah. Nach der Besetzung der Effingerstrasse 29 vom Kollektiv «Oh Du Fröhliche» in der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember 2016 und der darauffolgenden Räumung am 22. Februar 2017 reichte die Liegenschaftseigentümerin, das Bundesamt für Bauten und Logistik, Strafantrag gegen Unbekannt ein. Rund zweieinhalb Jahre später nun der dreiwöchige Prozess, der wohl grösste in der Geschichte der Berner Hausbesetzungen. Man habe sich im Prozess nichts geschenkt, ein Schlagabtausch zwischen Anklage und Verteidigung, wie sie es noch selten gesehen habe, so die Richterin.
Die Anklageschrift war rechtsgültig, der Anklagegrundsatz wurde nicht verletzt
Man könne das Ganze nicht einfach rein formell abkanzeln, so die Richterin. Sie stellt zu Beginn der Urteilseröffnung klar, dass das Akkusationsprinzip, der Anklagegrundsatz im Strafprozessrecht, nicht verletzt worden sei, wie von einigen Verteidiger*innen im Prozess behauptet. Der Anklagegrundsatz wolle soweit möglich informieren und individualisieren, alle Elemente seien klar umschrieben gewesen in der Anklageschrift, Person, Zeitpunkt, Tatvorwurf – es sei eben genau nicht verlangt, dass bereits in der Anklageschrift steht, wer wann welche Tür aus welchem Stockwerk geworfen habe. Auch sei irrelevant, wer zum Kollektiv «Oh Du Fröhliche» gehört habe, da es ein Kollektiv juristisch gesehen nicht gibt und für Alle, ob Besucher*in oder Kollektivmitglied, klar gewesen sei, dass die Eigentümerin der Liegenschaft nicht wollte, dass sich jemand im Haus aufhält, «und zwar egal ob zum Wohnen, Spielen, Musizieren…irgend», so Bochsler. Keine*r der Angeklagten habe dem Gericht erklärt, warum Er oder Sie vor Ort gewesen sei. Niemand habe im Prozess vorgebracht, «nur etwas geliefert zu haben» oder «als Handwerker im Haus gewesen zu sein». In dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten, gehe nicht soweit, völlig theoretische Möglichkeiten gewinnbringend für den oder die Angeklagte anzunehmen. Die Staatsanwältin habe richtig angeklagt, daher könne das Verfahren «nicht einfach formell abgewürgt werden», urteilt Richterin Bochsler und geht zur Beweiswürdigung über.
Die Beweise, die man im Prozess hatte, seien verwertbar, stellt die Einzelrichterin fest. Auch die Aussagen der Privatkläger seien, so wie die wenigen Aussagen der Beschuldigten auch, glaubwürdig vorgebracht worden. Die Aussagen der klagenden Polizisten und des Feuerwehrmannes würden sich nicht widersprechen und seien in sich stringent. Ihre Wahrnehmungsberichte wurden daher vom Gericht verwertet, so auch die Zeugenaussagen. Es sei nicht etwa so, dass Polizist*innen vor Gericht nie eingestehen würden, dass sie sich nicht erinnern könnten, sagt die Richterin und zieht einen, für die Anwesenden etwas belustigenden Vergleich, zu Polizeieinsätzen bei Coronamassnahmen-Demonstrationen, wo Polizisten im Nachgang sagen, sie hätten «keinen Plan mehr» vom Einsatz. Ausserdem habe man Videos und Bilder aus den damaligen Medienberichten und von der Polizei, sowie Chatverläufe und vor Ort vorgefundenes Material als Beweise verwerten können, so Bochsler.
Eine geheime Räumung sei wegen dem „Katz-und-Maus-Spiel“ nötig gewesen
Ob die Hausräumung rechtskräftig gewesen ist, diese Frage beantwortet das Gericht mit einem klaren «Ja». Das Berner Polizeigesetz biete eine ausreichende gesetzliche Grundlage für eine solche Hausräumung, eine Hausräumung ohne Vorwarnung und ohne Möglichkeit zum Gehen. Dass die Räumung nicht angedroht wurde, sei zwar keine gängige Vorgehensweise, aber im Falle der Effy29-Besetzung nötig, so Richterin Bochsler. Es sei von Anfang an schwierig gewesen, mit den Besetzenden Kontakt aufzunehmen. Bereits bei der Besetzung im Dezember habe es ein «Katz- und-Maus-Spiel» zwischen Besetzer*innen und Behörden gegeben. Falsche Namen seien angegeben worden und der Eigentümerin wurde der Zugang zum Gebäude verwehrt, Kontakt zu den Besetzer*innen aufzunehmen sei nur über ein «Briefkorb» möglich gewesen, der von den Besetzenden an der Fassade entlang runtergelassen wurde, um Briefe reinzulegen. Es sei klar gewesen «wer zu wem gehört und das alle, welche nicht dazugehören, nicht (ins Haus) reinkommen». Dass die Kantonspolizei sich zu einer «geheimen» Räumung entschieden habe, sei aus Sicht der Richterin, nötig gewesen, um zu vermeiden, dass die Besetzer*innen den Behörden weiter «auf der Nase herumtanzen». Auch wenn in anderen Kantonen eine Vorwarnung nötig sei, gebe es in Bern keine Pflicht zur Räumungsandrohung, sagt Bochsler und richtet sich mit diesen Worten an diejenigen Anwält*innen, die sonst in anderen Kantonen als in Bern tätig sind.
Dass die Hausräumung mit massiver Gewalt auch seitens Polizei abgelaufen ist, mit der Spezialeinheit «Enzian», mit Tränengas und Wasserwerfern, dafür seien die Besetzenden selbst verantwortlich, so die Richterin. Ihre Worte, dass ohne Gegenwehr der Bewohner*innen, die Polizei lediglich «eine Tür aufgebrochen» hätte und dies «sogar mit Einwilligung der Hauseigentümerin», führt zu Kopfschütteln und kurzen Blickwechseln unter den im Gericht anwesenden Personen. Laut der Richterin hätte ohne Gegenwehr der einzige Körperkontakt zwischen Einsatzkommando und Besetzer*innen beim «Raustragen» der Besetzenden stattgefunden, wieder geht ein Raunen durch den Gerichtssaal. Es sei letztlich sowieso nicht am Gericht, die Verhältnismässigkeit des Einsatzes zu überprüfen, kürzt die Richterin ab.
„Wir wissen schlicht nicht, wer wirklich Gewalt angewendet hat und wer nicht“
Sehr detailliert umschrieben in der Anklage, ist die Gewalt gegen die Einsatzkräfte. Geschirr, Holzlatten, Ziegelsteine, Armierungseisen, Schrauben, Farbe, Müll und eben auch Feuerwerk sei Polizei und Feuerwehr beim Einsatz entgegen gekommen. Laut Bochsler eine «regelrechte Gewaltorgie». Man habe unzählige objektive Beweismittel vor Ort erheben können, Videos und Wahrnehmungsberichte würden ein stimmiges Bild ergeben, so Richterin Bochsler. Die Gewalt sei auch nie wirklich bestritten worden von der Verteidigung. Doch was man eben nicht wisse, sei, wie viele und wer von den Angeklagten sich tatsächlich zur Wehr gesetzt haben. Auch auf neunminütigen Videoaufnahmen sehe man schlicht nicht, wer die Gegenstände aus dem Fenster geworfen hat. «Eine grüne Vermummung und Tattoos», mit solchen Personenbeschrieben sei in dieser Gruppe nicht festzustellen, wer das gewesen sein soll. «Sie haben wahrscheinlich alle Tätowierungen», so Bochsler. Da es kaum möglich ist, Sofas alleine aus dem fünften Stockwerk rauszuwerfen und sowohl Zeug*innen wie auch zwei der Angeklagten immer von einer Mehrzahl von Personen, die Gewalt angewendet haben, gesprochen haben, wird von einer Gruppentat ausgegangen. Doch wie viele es waren, die Gewalt angewendet haben, weiss das Gericht nicht. Denn alle sechzehn Angeklagten zusammen waren es auch nicht, so die Richterin, gemäss Aussagen von Beschuldigten habe es mehrere Personen gegeben, die in einem geschlossenen Zimmer darauf gewartet haben, dass der Einsatz einfach nur vorbeigeht.
Wie viele eigentlich gerne gegangen wären und es nicht konnten, sei nicht festzustellen. Dass die Personen im Haus die Räumung erwartet haben und sich deshalb verbarrikadiert haben, sei anzunehmen. Doch auch hier wisse man nicht, wer mitbekommen habe, dass mitten in der Nacht die letzte Möglichkeit gewesen wäre, das Haus zu verlassen. Dass es den im Haus befindenden Personen nicht möglich war, während der Auseinandersetzung zwischen Räumungskommando und Besetzer*innen die Liegenschaft zu verlassen, sei klar, so die Richterin. Denn während den ganzen 2,5 Stunden, die der Einsatz gedauert hat, habe es nie eine längere Pause von der Gewalt gegeben, die dafür hätte genutzt werden können, zu gehen. Spätestens als die Räumung begonnen hat, habe es «objektiv und subjektiv kein Entkommen mehr gegeben», so Bochsler. Dass alle Anwesenden wohl mit passivem Widerstand gegen die Räumung gerechnet haben, sei das eine. Dass man aber daraus schliessen würde, dass sich alle dafür entschieden hätten, sich im Falle einer Räumung aktiv zu wehren, verstosse gegen die Unschuldsvermutung. Auch hier gilt wieder – in dubio pro reo.
Und dann sagt die Richterin in einem schlichten Nebensatz «und damit scheitert der Vorwurf der Teilnahme». Die Anwält*innen im Saal tauschen vielsagende Blicke aus, die meisten anderen Anwesenden realisieren die Bedeutung dieser Worte noch nicht. Richterin Bochsler führt aus: «Die physische Präsenz alleine ist noch kein Eventualvorsatz». Die Anklage der Staatsanwaltschaft, dass alle Angeklagten von der Räumung, der Verbarrikardierung und vor allem von der Gewalt gegen die Beamten Kenntnis hatten und sich mit den Gewaltanwender*innen solidarisierten, scheitert. «Freispruch für alle Angeklagten vom Vorwurf der Gewalt und Drohung gegen Beamte», sagt Bochsler und nimmt mit diesen Worten die Freiheitsstrafe, die wie ein Damoklesschwert über einigen Angeklagten schwebt, definitiv aus dem Spiel. Im Gerichtssaal macht sich eine vorsichtige, erstaunte Erleichterung bei den Angeklagten breit, ihre Verteidiger*innen drehen sich zueinander um und nicken einander mit vielsagenden Blicken zu. Kurzer Wortwechsel zwischen den Angeklagten und ihren Anwält*innen, wohl so was wie «Ja, niemand ins Gefängnis. Nein, keine hohe Geldstrafe».
Schuldspruch wegen Hausfriedensbruch
Das Urteil über den Vorwurf des Hausfriedensbruch hält Richterin Bochsler kurz. Die Angeklagten hätten den Hausfriedensbruch beim Betreten des Gebäude mindestens in Kauf genommen. Dass die Angeklagten im Februar nicht gewusst haben, dass die Liebenschaftseigentümerin in der Zwischenzeit Anzeige erstattet hatte, sei bei Antragsdelikten wie diesem immer so, man wisse trotzdem, dass man was Verbotenes macht, so Bochsler. Alle wussten dass das Haus besetzt ist und es sich nicht um eine Zwischennutzung handelt, «ganz Bern hat das gewusst, oder mindestens die linken Kreise», führt die Richterin weiter aus. Wohnungsnot sei kein Rechtfertigungsgrund, fügt die Richterin an, «und ein Rechtfertigungsgrund müsste dann schon geltend gemacht werden», ein kleiner Seitenhieb auf die konsequente Aussageverweigerung der Beschuldigten. Schuldspruch für alle 16 Angeklagten.
So kommt das Gerichtsverfahren zu seinem Abschluss, die Strafen werden bekannt gegeben, die meisten Angeklagten erhalten bedingte Geldstrafen im Rahmen von vierzig Strafeinheiten. Nur ein Angeklagter muss die Strafe unbedingt bezahlen, dies aufgrund seines Strafregisters, gemäss Richterin Bochsler gebe es bei ihm nicht wie bei den anderen eine gute Prognose, sich in Zukunft von Straftaten fernzuhalten. Dass die Angeklagten seit der Festnahme bei der Räumung der Liegenschaft an der Effingerstrasse 29 «die Füsse stillgehalten haben», zeige, dass sie sich sehr wohl konfliktfrei verhalten könnten, dass sei aber kein Freipass für neue Delikte. Die Bewährungsfrist beläuft sich auf drei Jahre. Die Zivilklagen der verletzten Polizisten und des Feuerwehrmannes werden vom Gericht abgewiesen. Dass das Urteil so milde erfolgt, ist dem Beweisnotstand bezüglich der Gewalt und Drohung geschuldet. «Hätten die Einsatzkräfte den hier Anwesenden, zum Zeitpunkt der Räumung, die Möglichkeit gegeben, zu gehen, sie aufgefordert, sich von der Kerngruppe abzuspalten, dann wären alle, die trotz dieser Aufforderung geblieben sind, zu der Gruppe der Gewaltanwendenden gezählt worden» und deshalb vermutlich alle wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte verurteilt worden. Ironischerweise war die unterlassene Räumungsandrohung, die Aufforderung zu gehen, genau das, was die Verteidigung am stärksten am Räumungseinsatz kritisierten.
Schlussendlich wäre das Regionalgericht Bern-Mittelland kein Gericht, wenn nicht noch die Moral der Geschichte thematisiert worden wäre. Und so setzt Richterin Bettina Bochsler zu einem kleinen Referat über Gewalt an, dass Gewalt immer Gewalt sei, egal gegen wen sie sich wendet. Gerade für eine Gruppe, die sich sonst klar gegen Gewalt positioniere, sei es wichtig, Gewalt an sich zu verurteilen. Denn Gewalt sei letztlich immer ein Aufgeben, immer unmoralisch. Auch wenn es einen Freispruch gegeben hat, sind die Einsatzkräfte dennoch verletzt worden. Wie eine Pfarrerin nach der Predigt sagt die Richterin «Ich bitte Sie, sich einige Gedanken zu diesen Worten zu machen» und entlässt die «Oh Du Fröhlichen» aus dem Gerichtssaal.
Live-Aufnahmen von der Räumung am 22. Februar 2017:
Effy29 verteidigt sich gegen polizeiliche Räumung
Erster Stock von Polizei übernommen, Widerstand Effy 29 hält an