Nach und nach verschwindet jemand. Kaum mehr sichtbar. Man sieht sich kaum mehr und wenn man sich sieht, sieht man sich geschockt an. Worte hat man keine dafür, weil wir sprechen nicht mehr darüber. Wir sind aware, bodypositive, feministisch. Wir haben keine Probleme mit unseren Körpern. Offiziell. Ich habe genug davon. Vom Schweigen darüber, dass eine ganze Generation an Frauen, zu welcher ich auch gehöre, darunter leidet, dass Komplexe da sind aber nicht da sein dürften, weil Feminismus und so.
Immer wieder verschwindet jemand, die ich kenne. Freundinnen, Arbeitskolleginnen, Bekannte, Vorbilder, Schwestern. Weiblich, jung und leistungsfähig. Und jedesmal dieselben Gespräche – „Hast du es gewusst?“ „Ich hätte das bei ihr wirklich nicht gedacht“ „Es tut mir so leid für sie“. Dieses Erstaunen ist es, was mich so wütend macht. Natürlich haben wir es gewusst, wir wissen es kollektiv. Ich kenne keine Frau, die sich nicht regelmässig mit bösen Worten selbst verletzt, sich Tätigkeiten verbietet, weil sie zu dick oder zu dünn ist oder sich dazu zwingt, anders zu essen und zu bewegen, als es ihr Körper eigentlich deutet. Es erstaunt mich nicht, bei keiner Frau die verschwindet, ob ich sie kenne oder nicht. Schlau, emphatisch und durchsichtig, so sollen wir sein. Wer dick ist, tanzt nicht in der Mitte des Raumes, wer nicht hübsch genug ist, könnte dann bitte in die Ecke stehen, vielen Dank.
Ironisch, wie in einer Gesellschaft, in der Schön-Sein so wichtig ist, gerade bei jungen Frauen, gleichzeitig erwartet wird, dass wir uns nicht damit identifizieren. Alle Körper sind schön – das sollten wir doch am besten wissen, wir linken, jungen, gebildeten Frauen. Doch was gerne ignoriert werden möchte schreit laut; wir linken, jungen, gebildeten Frauen sind seit Beginn unseres Daseins mit einem unrealistischen Frauenbild konfrontiert. Die Fähigkeit, gesellschaftliche Missstände zu reflektieren, schützt nicht automatisch vor dem Misstand an sich. Wir können uns erst von Size Zero erholen, wenn wir offen darüber reden dürfen, dass uns allen geschadet wurde, durch Kommentare, Bilder, Blicke, Uns wurde gelernt, unsere Körper immer wieder in Frage zu stellen. Wir müssen diese Sprache wieder verlernen dürfen, dazu brauchen wir Wörter und Diskurs. Lasst uns darüber reden, über den Wunsch zu Verschwinden, um zusammen Da zu sein, in der Mitte des Raumes, jung, links und schön.
Geschrieben und gelesen von Noëlle Grossenbacher.