Seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 ist die Krise in Afghanistan allumfassend. Die internationalen Finanzhilfen sind blockiert, es gibt nicht genug zu essen, weder genügend Bargeld noch Arbeit, und bald steht der Winter vor der Tür. Zudem befindet sich das Land in einer mehrjährigen Dürrephase. Die aktuelle Lage in Afghanistan sei viel schlimmer, als wir es uns hier vorstellen könnten, sagt Nick Miszak, Afghanistan-Experte bei der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace.
Die Machtübernahme der Taliban erschütterte das Land zutiefst. Auf den Zusammenbruch der Regierung folgte der grosse Exodus. Besonders gravierend für die Bevölkerung war, dass der Exodus der Menschen von einem Exodus des Geldes begleitet wurde. Die Taliban hätten die Banken denn auch umgehend geschlossen und den Bargeldbezug so stark eingeschränkt, dass es vielen Familien nicht mehr zum Überleben reicht.
Wie unzählige anderen Organisationen darf auch Swisspeace seinen Partnerorganisationen vor Ort solange kein Geld mehr überweisen, als die Regierung der Taliban nicht offiziell anerkannt und somit nicht mehr als terroristische Organisation eingestuft ist.
Der Strategie der westlichen Mächte, durch die Blockade der internationalen Finanzhilfen Druck auf die Taliban auszuüben, steht Nick Miszak kritisch gegenüber. Solche Sanktionen träfen primär die breite Bevölkerung und nicht die Machthabenden. Er befürchtet, dass sie die Arbeitslosigkeit, die steigenden Preise und den Zusammenbruch des Wirtschafts- und Finanzsystems weiter befördern.
Es sei absolut essentiell, betont Miszak, dass die internationale Gemeinschaft nun sehr schnell zumindest humanitäre Nothilfe zulasse. Afghanistan sei ein bergiges Land und weite Teile seien im Winter nicht erreichbar. Falls die Hilfe noch zu den Menschen komme solle, müsse sie somit schnell anlaufen.
Wie sich die Situation bezüglich der Respektierung von Grund- und Menschenrechten, insbesondere der Rechte der Frauen entwickle, sei derzeit schwierig einzuschätzen. Laut Miszak seien einige Einschränkungen von Frauenrechten bereits ersichtlich.
Nach den Sommerferien hätten lediglich die Schulen für Knaben aufgemacht. Die Taliban hätten zwar verlauten lassen, der Zugang zu Universitäten solle grundsätzlich auch Frauen weiterhin gewährt werden. Aufgrund der Weisung, dass diese nur von weiblichen Dozentinnen unterrichtet werden sollen, gäbe es hier jedoch praktische Hürden, weil es nicht genug Dozentinnen gäbe.
Auch Miszaks Analyse der neuen Regierung, welche die Taliban am 7. September 2021 vorgestellt haben, verheisst nichts Gutes. Das Kabinett bestehe ausschliesslich aus langjährigen Mitgliedern der Taliban, fast ausschliesslich aus Paschtunen mit religiöser Bildung, welche keinerlei Kenntnisse und Erfahrungen bezüglich den nun so dringend zu bewältigenden sozialen, Wirtschafts- und Finanzfragen vorweisen könnten und der umfassenden Krise im Land überhaupt nicht gewachsen seien.
Den Grund für den Verzicht, fähige Technokraten oder erfahrenere Personen anderer politischer Strömungen in die Regierung zu holen, verortet Miszak in der Tatsache, dass es den Taliban aktuell nicht um die Zufriedenstellung der internationalen Gemeinschaft gehe, sondern vor allem darum, den Rückhalt in der eigenen Bewegung sicherzustellen.
Während der Guerilla-Phase hätten die Taliban geeint gegen einen externen Feind gekämpft. Nun jedoch stehe die Spannungen erzeugende Aufgabe an, die Macht zu verteilen und einen Staat zu regieren. Dabei müsse die Führung nun in erster Linie auf die eigenen Leute Rücksicht nehmen, und damit auch auf die mehrheitlich sehr konservativen Taliban-Kämpfer, welche die letzten 20 Jahre für die gemeinsame politische Ideologie, und gegen das damals herrschende System gekämpft hätten.
RaBe im Gespräch mit Nick Miszak, Afghanistan-Experte bei Swisspeace: