Die Schweizer Regierung zieht im Ukraine-Krieg alle Register. Nachdem sie bei den Sanktionen gegen Russland mit der EU gleichzog, tut sie es jetzt auch in der Flüchtlingspolitik. Seit Freitag um Mitternacht gilt Schutzstatus S für alle Menschen, die aus der Ukraine flüchten müssen.
Über 2.5 Millionen Menschen sind gemäss UN-Angaben bisher aus der Ukraine geflüchtet, die allermeisten nach Polen. In der Schweiz sind bisher rund 2100 Geflüchtete angekommen. 70% sind Frauen und rund 40% minderjährig. Hinzu kämen all jene, die bereits hier seien, sich bei den Behörden aber noch nicht gemeldet hätten. Ukrainer*innen reisen im Schengenraum bekanntlich visumsfrei.
Der Schutzstatus S biete eine unbürokratische Lösung in Situationen, in denen sehr viele Geflüchtete innerhalb sehr kurzer Zeit ankommen, sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter an der Medienkonferenz. Er gibt den Behörden die Möglichkeit, Geflücheten ohne langwieriges Asylverfahren vorübergehenden Schutz zu gewähren und so die Asylstrukturen nicht zu überlasten.
Schutzstatus S erhalten neben den ukrainischen Staatsbürger*innen auch Personen aus Drittstaaten, die in der Ukraine ein Aufenthaltsrecht hatten und nicht sicher und dauerhaft in ihre Heimatländer reisen können.
In Absprache mit den Kantonen, Städten und Gemeinden hat der Bundesrat zudem zwei Abweichungen vom Asylgesetz beschlossen. Erstens sollen Ukrainer*innen mit Schutzstatus S für Reisen im Schengen-Raum keine Bewilligung beantragen müssen, und zweitens hat der Bundesrat die 3-monatige Wartefrist für den Zugang zum Arbeitsmarkt aufgehoben. Um die Hürden zusätzlich zu senken, wollen Bund und Kantone dafür sorgen, dass Ukrainer*innen möglichst schnell eine Landessprache erlernen können und ihre beruflichen Qualifikationen rasch anerkannt werden.
Zudem sollen die Kinder möglichst rasch zur Schule gehen können und die Erwachsenen eine möglichst «normale» Tagesstruktur erhalten, und wo nötig psychologische Betreuung erhalten.
Der historische Entscheid der Landesregierung den Schutzstatus S zu aktivieren, stiess gemäss Keller Suter in der Konsultation bei Kantonen, Städten und Gemeinden, bei Hilfswerken und beim UNHCR auf einstimmige Zustimmung.
«Der fahle Beigeschmack» – Kommentar zum Bundesratsentscheid
Wer die Medienkonferenz des Bundesrates mitverfolgte, durfte Zeug*in eines beispiellosen humanitären Aktes der Schweizer Regierung werden. Öffnet man indes den Blick, von der Ukraine auf die vielen Krisenherde dieser Welt, bleibt ein fahler Beigeschmack.
Man möchte nicht anklagen, wenn eine humanitäre Welle Europa überrollt und die Schweizer Regierung eine nie dagewesene Offensive lanciert, um Geflüchtete mit offenen Armen zu empfangen.
Und doch drängt sich der Blick in die unmittelbare Vergangenheit auf, als der Bundesrat und Karin Keller-Sutter gebetsmühlenartig immer die gleichen Phrasen wiederholten, wie «wir können nicht alle aufnehmen», «wir müssen den Menschen vor Ort helfen» oder «wir müssen genau prüfen, ob Geflüchtete wirklich an Leib und Leben bedroht sind.» Diese viel gehörten Standardsätze gelten nach wie vor, aber wohl nur für «die Anderen».
Der Bundesrat hat die Einschränkungen der Reisefreiheit aufgehoben, damit Ukrainer*innen ihre Verwandten und Freunde im Ausland besuchen können. Vor knapp 3 Monaten beschloss das Parlament seinerseits ein drastisches Reiseverbot für vorläufig Aufgenommene. Sie, die meist über Jahre oder gar Jahrzehnte hier leben, dürfen die Schweiz nur noch in absoluten Ausnahmefällen verlassen.
Innert 2.5 Wochen mussten über 2.5 Millionen Ukrainer*innen ihr Land verlassen. Trotzdem spricht ausser dem UNHCR kaum jemand von einer «Flüchtlingskrise». Warum nicht? Weckt der Begriff unliebsame Erinnerungen an 2015, weckt er zu viele Ängste und negative Gefühle? Oder ist er schlicht zu unpersönlich für unsere europäischen Nachbar*innen, oder ist er besetzt von «den Anderen»?
Sag du mir, woher du kommst und ich sage dir, wie schützenswert du bist: Der unterschiedliche Wert unterschiedlicher Menschen verblüfft in seiner Offensichtlichkeit und ausgerechnet die enorme Solidaritätswelle mit den Geflüchteten aus der Ukraine entblösst nun in aller Deutlichkeit den Rassismus und Klassismus in der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik.
Aber ich wage die Hoffnung, dass dieser schreckliche Krieg wenigstens etwas Positives bewirkt: Die Menschlichkeit zurück in die Festung Europa zu tragen, längerfristig und unabhängig von Ethnie, Religion, Herkunft, sozialem oder ökonomischem Status oder sonstigen Kategorien – denn die Folgen von Krieg und Krisen sind überall die gleichen, egal ob in Europa oder anderswo auf der Welt.