Nach den Wahlen ist vor den Wahlen in Brasilien: Am Sonntag fand die erste Runde der umkämpften Präsidentschaftswahlen statt. Viele Linke hatten gehofft, dass Lula da Silva schon im ersten Wahlgang gewinnt, was nicht geglückt ist: Lula verpasste die 50%-Hürde knapp. Ende Oktober kommt es deshalb zur Stichwahl zwischen dem amtierenden rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro und dem linken Luiz Inácio da Silva, genannt Lula. «Was man auf jeden Fall sagen kann ist, dass es ein sehr harter und erbitterter Wahlkampf wird», erläutert Niklas Franzen, der sich als freier Journalist momentan in São Paolo aufhält. In den letzten Monaten ist es zu mehreren politisch motivierten Morden an Lula-Anhänger:innen gekommen. «Die Stimmung ist aufgeheizt, das wird den Wahlkampf auch prägen.»
Lula werde nun alles daransetzen, die Wahl zu gewinnen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Doch auch wenn Lula die Wahl gewinnt, so wäre der Bolsonarismus damit noch nicht überwunden. «Für Lula wird es nicht einfach sein zu regieren. Das Kräfteverhältnis wird weiterhin so sein, dass die Rechten im Parlament die Mehrheit haben. Die Möglichkeiten für linke Veränderungen werden klein sein für eine mögliche Lula-Regierung.» Der Bolsonarismus habe zudem eine grosse Kraft auf der Strasse. «Bolsonaro könnte im Falle einer Wahlniederlage Zweifel und Unruhe stiften. Es wäre auch mit grösseren Proteste und Gewalt zu rechnen. Oder aber mit Bildern wie beim Kapitolsturm in Washington», befürchtet Niklas Franzen.
Falls Bolsonaro die Wahl trotzdem gewinnen würde, stellt dies eine noch grössere Bedrohung für die Demokratie dar. «Die grosse Gefahr liegt darin, dass eine Wiederwahl von rechten Autoritären oft zum regelrechten Staatsumbau geführt haben.» Bolsonaros Wiederwahl könne dazu führen, dass er vermehrt Macht über die Judikative ausüben würde: Er könnte zwei weitere Verfassungsrichter stellen und durch eine Mehrheit im Senat einzelne Richter*innen des obersten Gerichtshofs durch ein Amtsenthebungsverfahren absetzen. Niklas Franzen verweist auf die USA, wo der Oberste Gerichtshof trotz demokratischer Regierung das Recht auf Abtreibung gekippt hat. «Sollte Boslonaro es schaffen, im Obersten Gerichtshof eine konservative Mehrheit zu schaffen, muss man sich auf einiges gefasst machen.»
Niklas Franzen ist freischaffender Journalist und lebt seit mehreren Jahren in Brasilien. Er hat ein Buch verfasst mit dem Titel Brasilien über alles – Bolsonaro und die rechte Revolte.