Vor siebzig Jahren, im Jahr 1953, ist der afroamerikanische Schriftsteller Vincent Carter in Bern gelandet. Vier Jahre nach seiner Ankunft hat Vincent Carter das «Bern Book» fertiggestellt, in dem er seine Erfahrungen als schwarze Person in einer weissen Stadt dargelegt. Er beschreibt Situationen von Alltagsrassismus und Diskriminierungen, aber legt auch einen ironischen Blick auf die Stadt Bern und ihre Bewohner:innen. Das Bernbuch lange wenig beachtet. Erst kürzlich wurde in deutscher Übersetzung veröffentlicht und hat an Bekanntheit gewonnen. Nun wird das Werk von Vincent Carter in den Vidmarhallen aufgeführt. Eine der Hauptrollen spielt Mbene Mwambene. Sarah Heinzmann hat sich mit ihm getroffen und sich mit ihm über das Stück, die Person Vincent Carter und Bern unterhalten
RaBe Info: Mbene, was hat es in Ihnen ausgelöst, als Ihnen eine Rolle im Theater «Das Bern Buch» angeboten wurde?
Mbene Mwambene: Aufregung, aber auch Traurigkeit. Ich hatte vorher das Buch nicht gelesen. Je mehr ich also das Buch las, desto mehr Fragen kamen auf: Was ist meine Rolle in dieser Geschichte, und wie fühle ich mich in Bern, und wie hängt die Geschichte von Carter mit meinem Leben in Bern zusammen? Ich wusste, dass es ein herausfordernder Prozess sein würde, weil es bis zu einem gewissen Grad meine persönlichen Erfahrungen in dieser Stadt widerspiegelt.
RI: Mbene, sie teilen sich die Rolle von Vincent Carter mit den anderen Schauspieler:innen. Wie kann ich mir das vorstellen?
MM: Ich selbst wollte von Anfang an nicht die Hauptrolle spielen. Erstens nicht als schwarzer Schauspieler, zweitens aber auch nicht nur als Schauspieler. Ich wollte nicht auf Carter reduziert werden. Mich hat die Frage der Repräsentation interessiert: Wie schaffen wir eine Utopie, in der wir eine Geschichte nicht als schwarzer Mann, nicht als Frau, nicht als weißer Mann erzählen, sondern als Menschen, die Interesse an verschiedenen Geschichten haben. So kamen wir zu dem Schluss, dass wir diese Geschichte lieber kollektiv als Carters erzählen.
RI: Sie teilen sich also gemeinsam die Rolle von Vincent Carter?
MM: Genau, es klingt ein bisschen philosophisch: Ich werde also Carter, er wird Carter, sie wird Carter, sie werden Carter, wir sind Carters.
RI: Carter beschreibt im Buch, wie er in Bern ankommt, wie die Leute ihn anstarren und über ihn lachen. Mbene, wie haben Sie dieses Gefühl, angestarrt zu werden, in dem Stück dargestellt?
MM: Die Macht des Blickes ist mehr als nur das Angeschaut werden. Es ist das, was im Blick liegt. Blicke können Unruhe auslösen. Sie können jemanden klein machen oder Macht verlieren lassen. Blicke manifestieren auch Hierarchien: Wer schaut wen an? Und warum? Wie lange?
In dem Stück geht es um mehr als das buchstäbliche Schauen, um das Angestarrt werden. Es geht um die Präsentation von Menschen auf der Bühne, und das wird politisch: Was ist das, was man auf der Bühne sieht? In dieser Situation, in der ich als schwarze Person auf der Bühne angeschaut werde und eine Geschichte erzählt, habe ich aber auch die Macht, selbst über die Geschichte zu entscheiden. Das ist es, was ich interessant finde: Ich erzähle Carters Geschichte durch mich selbst, und dieser Platz gehört mir als Schauspieler. Daher bin ich in diesem Raum sehr mächtig.
RI: Ein grosses Thema für Vincent Carter ist seine Auseinandersetzung mit seiner Kunst. Immer wieder musste er sich dafür rechtfertigen, als Künstler in der Schweiz zu arbeiten. Mbene, auch sie sind Künstler in der Schweiz. Haben sie den Eindruck, sich für ihre Tätigkeit als Künstler rechtfertigen zu müssen?
MM: Das betrifft jede:n, der in diesem Land als Künstler:in arbeitet. Kunst wird nicht als Arbeit angesehen. Es wird zu einer philosophischen Frage: Was ist überhaupt Arbeit? Unser Gespräch jetzt: Ist das Kunst? Ist das Arbeit? Die Menschheit ist so sehr von Kunst umgeben. Wenn du Kunst nicht als Arbeit betrachtest, kommt man zu dem Schluss, dass das Leben nicht lebendig ist. Dass das Leben keinen Rhythmus hat Wenn du rausgehst und die Musik wahrnimmst, die Malerei, die Architektur die Weise, wie du schreibst, wie du deine Haare schneidest: Das ist Kunst! Es ist interessant, dass dieser Beitrag zum Leben so missachtet wird.
RI: Carter konnte von seiner Kunst nicht leben. Er musste sich andere Tätigkeiten suchen, um über die Runden zu kommen. Dabei arbeitete er unter anderem auch für das Radio. Das hatte aber so seine Tücken: Für das Radio sollte Carter über Schwarze Kultur schreiben, aber so wie die Schweizer:innen sich die Schwarze Kultur vorstellen, also über sehr klischierte Themen wie Gospel oder Jazz. Andere Themen sollte Carter nicht behandeln. Er wurde also auf sein Schwarzsein reduziert. Wie sehr fliesst dieses Exotisieren von Schwarzer Kultur in das Stück ein, Mbene?
MM: Das ist sehr interessant: Es ist eine sehr enge Perspektive, die die Schweizer in dieser Zeit haben, wenn sie darauf bestehen, dass Carter die schwarze Kultur repräsentieren soll. Aber was wissen weiße Schweizer:innen über schwarze Kultur? Durch welche Kanäle haben sie Zugang zu Informationen über die schwarze Kultur?
Es ist auch in der Kunst sehr verbreitet, dass von einem erwartet wird, eine bestimmte Person zu sein. Das betrifft nicht nur das Schwarzsein, sondern auch das Frausein: Die Gesellschaft erwartet von dir, dass du eine bestimmte Rolle im Theater spielst. Das betrifft auch die Finanzierung. Wenn man sich um einen Platz im Theater bewirbt, wird man in der Diskussion immer daran erinnert, über Sklaverei oder Kolonialismus oder Rassismus zu sprechen. Aber manchmal möchte ich nicht darüber sprechen, weil ich auch über andere Dinge sprechen kann, über etwas, was nichts mit Kolonialismus oder Rassismus zu tun hat.
Natürlich waren wir uns bewusst, worüber wir in diesem Stück sprechen: Rassismus, Kolonialismus, diese Dinge. Aber ich wollte nicht reinkommen und nur das geben. Ich wollte Mbene sein, der Künstler, der an diesem Text von Carter arbeitet. Nicht Mbene der auf eine schwarze Art tanzte oder singt.
RI: Carter wurde oft gefragt, was ihn nach Bern gebracht habe. Ihn hat die Frage regelmässig aus der Bahn geworfen – warum?
Erstens ist die Frage eine Projektion der Schuld auf die andere Person: «Du bist selbst schuld, dass du hierhergekommen bist. Wenn du etwas zu meckern hast: Halt die Klappe!» Zweitens ist es auch Unsicherheit, die projiziert wird. Es ist wie in einer Beziehung, wenn jemand ständig fragt: «Warum bist du mit mir zusammen? Ich bin nicht gut genug!». Schweizerinnen und Schweizer sagen: «Wir sind nicht sexy genug, wir sind nicht lebendig genug; Vincent Carter: was machen Sie hier?». Und drittens wird durch die Frage klar, dass Vincent Carter als anders gesehen wird, als fremd: «Sie sind Afroamerikaner: Warum sind Sie hier? Sie sind nicht Teil von uns. Warum sollten Sie hierher kommen?». Vincent Carter wird immer der Andere bleiben. Egal wie sehr er sich bemüht, Radiosendungen zu anderen Themen zu machen, er wird immer dazu gedrängt, etwas über schwarze Spirituals zu machen.
RI: Die Frage, was Sie hierher gebracht hat, wie Sie hierher gekommen sind. Sie als junger Schwarzer Künstler, der in Bern lebt: Ist das auch eine Frage, mit der Sie konfrontiert sind?
MM: Ja, und meine Antwort ist, dass Bern die beste Stadt der Welt ist. Und dann lachen alle. Und ich sage: doch, das stimmt. Meistens machen die Leute Witze: «Wie, wir sind langweilig!». Und ich sage, «Nein, ihr bist nicht langweilig, aber vielleicht sind diese Unsicherheiten nur eine Art, euch abzuschotten».
Die Textausschnitte, die im Beitrag zu hören sind, stammen aus dem Podcastprojekt Bern liest und hört der Berner Literaturvermittlerin Nicole Widmer. Verschiedene Ausschnitte des Bern Buches können in Berner Lokalitäten angehört werden. Das Projekt läuft bis im April.