Am 20. März 2023 jährt sich der Beginn des Irak-Krieges zum 20-zigsten Mal. Manche mögen sich noch an die breiten und lautstarken Antikriegsproteste erinnern, mit wehenden Pace-Fahnen an Balkons und regelmässig zehntausenden von Menschen auf den Strassen. Mit den Folgen dieses Krieges hadert der Irak bis heute, seien es extremistische Anschläge und Gewalt, seien es Korruption und Perspektivlosigkeit.
In unserer monatlichen Rubrik «Zeitsprung» blickt Christian Wyler auf die vielen, noch heute sichtbaren Wunden des Krieges, 20 Jahre nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein. Wyler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am «Forum Islam und Naher Osten» der Universität Bern Wyler. Er hat zum Irak nach 2003 doktoriert und beschäftigt sich seither intensiv mit dem Land im Nahen Osten.
Christian Wyler verortet das Hauptproblem des heutigen Irak im «konfessionalistischen» politischen System des Landes. Nach dem Sturz Saddams 2003 haben die USA gemeinsam mit der irakischen Übergangsregierung eine föderalistische, parlamentarische Demokratie installiert. Ziel war eine «gerechte», heisst paritätische Machtverteilung zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. 20 Jahre später sei nun deutlich ersichtlich, dass die Idee, das politische System entlang von konfessionellen und ethnischen Zugehörigkeiten zu organisieren, definitiv gescheitert ist, ist Wyler überzeugt.
Dieses «konfessionalistische» System führte dazu, dass die Parteien lediglich als sunnitisch oder schiitisch wahrgenommen werden und es somit im Kern nicht mehr um politische, inhaltliche Anliegen oder Vorhaben gehe, sondern lediglich darum, die jeweilige Bevölkerungsgruppe zu repräsentieren, bzw. die Macht und den Zugang zu den Ressourcen unter den Bevölkerungsgruppen aufzuteilen.
Auf die Schweiz übertragen, würde ein solches System in etwa bedeuten, dass sich Parteien auf die Repräsentation von einzelnen Sprach- oder sonstigen Bevölkerungsgruppen konzentrieren würden anstatt auf inhaltliche Programme.
Der Rückhalt für das aktuelle System sei in der irakischen Bevölkerung mittlerweile extrem gering, was im Jahre 2019 zu breiten Massendemonstrationen führte. Denn was nützt es der schiitischen Bevölkerung, dass ein Schiit Premierminister ist, fragt Wyler, wenn die Menschen aufgrund des verschmutzten Wassers beim Duschen Hautausschläge bekommen und der Strom ständig ausfällt. Zudem sei das politische System auch die Hauptursache der enormen Korruption im Irak.
Mittlerweile sei die Unzufriedenheit so gross, dass die Demonstrierenden keine neue politische Elite mehr fordern, sondern ein komplett neues politisches System. Gemäss Wyler wünschten sich viele eine Technokratie, heisst eine Regierung, die das Land lediglich verwaltet und sich ansonsten aus der Politik raushält.
Um der Gewalt, der grassierenden Korruption, der mangelhaften Infrastruktur und der Perspektivlosigkeit der jungen Generation ein Ende zu setzen, brauche die irakische Bevölkerung Zeit und Raum, um – ohne Intervention von aussen und Gewalt von innen – über ihr politisches System nachzudenken und zu debattieren. Die Voraussetzungen dafür seien unter anderem Rechtsstaatlichkeit, Schutz vor Gewalt von Frauen und Minderheiten, sowie die Möglichkeit, echte politische Debatten zu führen.
Eine Blaupause für die «richtige» Form von Demokratie im Irak existiere nicht, betont Wyler, weil die Suche danach egal wo auf der Welt sei ein stetiger Prozess. Demnach sei der Blick auf den Irak auch kein Blick in irgendeine von Fanatismus geprägte Vergangenheit, sondern ein Blick auf unsere globale Gegenwart, auf die globalen Herausforderungen von Demokratie und politischer Partizipation.