Soll Recep Tayyip Erdoğan an der Macht bleiben oder nicht? Das ist die Gretchenfrage der kommenden Wahl in der Türkei vom 14. Mai. An der Erdoğanfrage scheiden sich die Geister: Da ist auf der einen Seite das Bündnis, welches versucht, den Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu an die Macht zu holen. Und auf der anderen Seite diejenige, die versuchen, Erdoğan in seinem Posten zu halten. Ein breites Bündnis reaktionärer Kräfte tummelt sich in dieser Volksallianz. Prominent dabei: Die AKP, die aktuelle Regierungspartei, deren Vorsitzender Erdoğan ist. Diese wird unter anderem unterstützt von der rechtsextremen Partei der grauen Wölfe, der MHP. All diese rechtskonservativen bis faschistoiden Gruppen formen zusammen die Volksallianz, die die Wahl Erdoğans unterstützt: ein gefährlicher Zusammenschluss, so Kerem Schamberger, der die Region gut kennt.
Gegen diese Allianz formt sich Widerstand. Der grösste Oppositionsblock mit dem Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu ist der sogenannte Sechsertisch. Zusammengehalten wird dieses sehr heterogene Bündnis vom kleinsten gemeinsamen Nenner, der Ablehnung Erdoğans. Nicht als solche antreten wird die linke HDP, die in der Vergangenheit vor allem von der kurdischen Bevölkerung gewählt wurde. Die HDP war in der Vergangenheit einer immensen Repression durch das AKP-Regime ausgesetzt: HDP-Bürgermeister wurden abgesetzt, Parteiabgeordnete landeten im Gefängnis. Die HDP könnte in der Türkei kurz vor einem Verbot stehen, erklärt Kerem Schamberger. Deswegen würden HDP-Vertreter:innen bei der Partei Yeşil Sol antreten, welche wiederum Teil eines linken Parteienbündnisses, des Bündnisses für Arbeit und Freiheit, ist. Das Wahlbündnis für Arbeit und Freiheit stellt indes keinen eigenen Kandidaten, sondern schliesst sich mit dem Sechsertisch zusammen und unterstützt den Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP.
Gewählt wird in der Türkei seit einem Monat – inmitten diverser Krisen. Einerseits ist die wirtschaftliche Lage sehr schwierig: Die Inflation ist immens hoch und viele können sich Früchte und Gemüse auf den Märkten nicht mehr leisten, erklärt Kerem Schamberger. Gleichzeitig nimmt in der Aussenpolitik eine Kriegsrethorik zu, vor allem gegen die demokratische Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien, auch als Rojava bekannt. Zu diesen wirtschaftlichen und aussenpolitischen Krisen kommt das verheerende Erdbeben von Anfang Februar, bei dem nach offiziellen Angaben über 50 000 Menschen ums Leben kamen.
Gegebenenfalles, die Wahl würde zum Erfolg für die Opposition und Kemal Kılıçdaroğlu würde die zum Präsideten ernannt – wie warscheinlich wäre es denn, dass Erdogan sein Amt gewaltlos abgibt? Kerem Schamberger sieht das kritisch: «Meine persönliche Einschätzung ist, dass dieses AKP-Regime nicht alleine durch durch eine Wahlniederlage gehen wird. Die AKP ist nicht mehr nur noch eine Partei, sondern eine Staatspartei. Eine einfache Wahl wird nicht dazu führen, dass das Regime die Macht abgibt.»
Kerem Schamberger ist Referent für Flucht und Migration bei Medico International und setzt sich aktivistisch für die internationale kurdische Bewegung ein. Das Interview wurde von Radio Blau in Leipzig geführt.