Als Rebellenorganisationen und die Zivilgesellschaft letzten Dezember Baschar Al-Assads stürzten, beendeten sie eine jahrzehntelange Phase autoritärer Herrschaft. Dieses Wochenende fanden die ersten Wahlen seit dem Sturz Assads statt. Der Wahlvorgang steht allerdings in der Kritik: Es konnte nicht die gesamte Bevölkerung Wählen, zudem waren ganze Regionen von der Wahl ausgeschlossen. Wir haben mit Ali Sonay, Dozent im Fachbereich Mittlerer Osten und muslimische Gesellschaften der Universität Bern, über die Wahlen in Syrien gesprochen.
Es ist definitiv eine wichtige Entwicklung für Syrien nach Jahrzehnten der Assad-Herrschaft. Ob sich das Land auf dem Weg der Demokratisierung befindet, das müssen wir noch weiterverfolgen. Die aktuelle Wahl hat den Charakter eine Übergangswahl, Syrien ist immer noch in einer Übergangsphase. In dieser Phase wird es die Aufgabe des neuen Parlaments sein, eine neue Verfassung zu erarbeiten und dann darauf basierend neue Wahlen im ganzen Land auszurichten.
Es war in der Tat eine indirekte Wahl. Präsident Al-Sharaa hat ein elfköpfiges Komitee gebildet, das wiederum in den teilnehmenden Provinzen ein Wahlgremium aus 6'000 Personen eingesetzt hat. Und dieses Wahlgremium hat dann diese Wahl der 140 zu bestimmenden Parlamentarier*innen vorgenommen.
Hauptgrund war die Sicherheitslage sowohl in den Provinzen Raqqa und Hasaka im Norden als auch im drusischen Suweida. Daneben verwies die Übergangsregierung auf einen fehlenden Zensus. Die Register der Wähler*innen sind in diesen Gebieten nicht mehr aktuell. Sie müssten erneuert werden, angesichts des Konfliktes und der daraus resultierenden Migrationsbewegungen der Syrer*innen.
Bis jetzt sind 140 Parlamentarier*innen gewählt worden, 70 weitere werden noch durch den Präsidenten A-Sharaa ernannt. Die bisherigen Resultate zeigen, dass vor allem sunnitische Männer die Wahl für sich entscheiden konnten. Bis jetzt gibt es zehn Parlamentarier, die man den sogenannten Minderheiten zurechnen könnte, also Christen, Alawiten und Drusen. Und 4%, so die aktuelle Einschätzung, sind Parlamentarierinnen. Einige hoffen nun darauf, dass Präsident Al-Sharaa diese Zusammensetzung ausbalancieren könnte mit seiner noch anstehenden Auswahl der restlichen 70 Parlamentarier*innen.
Es ist nicht gänzlich repräsentativ. Wir haben die drei Provinzen angesprochen, in denen die Wahl nicht stattgefunden hat. Das sind 21 Plätze im Parlament, die aktuell dadurch nicht besetzt sind. Und gleichzeitig haben wir die Praxis, dass der Präsident 70 Parlamentarier*innen selbst bestimmen wird. Ohnehin hatte er bereits das Gremium ausgewählt, das wiederum die 6’000 Wähler*innen ausgewählt hat. Wir sehen also eine Dominanz des Präsidenten. Es wird nun darauf ankommen, wie das Parlament arbeitet. Das Parlament hat Befugnisse, es kann Gesetze einreichen, es stimmt über das Budget ab und es wird eine Rolle spielen bei der Ausarbeitung der der Verfassung. Es wird auf diese Arbeit ankommen, wie sehr sich das Parlament vom Einfluss des Präsidenten lösen kann.
Das hängt von zwei Faktoren ab. Auf der einen Seite ist das die Beziehung zwischen der Zentralregierung und den kurdischen Akteuren sowie der Zentralregierung und der drusischen Region. Aktuell befinden wir uns in einer angespannten Situation. Es braucht eine neue Beziehung zwischen der Zentralregierung und den Provinzen. Die Zentralregierung muss Dezentralisierungsschritte unternehmen. Wenn wir über Syrien insgesamt sprechen, ist es wichtig, Vertrauen in diesen Prozess zu generieren und zu erhalten. Viele Syrer*innen sind glücklich über diese Wahl, über diesen Prozess. Aber gleichzeitig gibt es in der Gesellschaft Misstrauen gegenüber der zentralen Regierung, gerade bei den Minderheiten. Das ist der zweite Faktor, auf den es ankommt, um diesen Prozess so inklusiv und so repräsentativ wie möglich zu gestalten.