Hanna Voss: Ich war draussen in der Stadt unterwegs, als ich am Nachmittag plötzlich entfernt Geräusche hörte. Man konnte sie nicht einordnen. Wenige Minuten später kamen die ersten Meldungen von Explosionen. Geräte waren in Taschen, Rucksäcken, Hosentaschen, aber auch in Wohnungen detoniert. Sofort wurden Erinnerungen an die Hafenexplosion von Beirut im August 2020 wach, weil stundenlang Sirenen heulten. Die Krankenhäuser waren überfüllt, man schickte sich gegenseitig Nachrichten, wo Blutspenden am dringendsten gebraucht wurden. Viele sorgten sich um Freund*innen.
Die Verunsicherung war enorm. Man fragte sich sofort: Wo habe ich meine technischen Geräte gekauft? Welche Batterien stecken in meinem Handy oder meiner Vespa? Wer sitzt als nächster Uber- oder Taxifahrer am Steuer – könnte da etwas präpariert sein?
Dieser Darstellung, wie «raffiniert» oder «präzise» das gewesen sein soll, widerspreche ich grösstenteils. Durch die Anonymität der Attacke war sie völlig willkürlich. Man musste nur im Supermarkt neben der falschen Person stehen. Auch wenn sie sich gegen die Hisbollah richtete, konnte es letztlich jede und jeden treffen.
Die Pager-Attacke war, wie wir heute wissen, Teil der Vorbereitung auf den gross angelegten Krieg. Israels Offensive begann kurz darauf. Der Angriff hat die Kommunikationsinfrastruktur der Hisbollah massiv gestört, weshalb sie in der Folge kaum reagieren konnte.
Man muss allerdings unterscheiden zwischen militärischer, politischer und gesellschaftlicher Stärke. Die Hisbollah besteht vor allem aus Menschen im Süden Libanons, die sich Israel gegenüber bedroht fühlen und deshalb mitmachen. Solange dieser Konflikt besteht, hat sie für viele eine Daseinsberechtigung. Sie ist in den gesellschaftlichen Strukturen tief verankert: als Partei in der Regierung, mit Sozial- und Medizinsystemen. Verschwunden ist sie also nicht, doch militärisch wurde sie deutlich geschwächt.
Israel hat den Waffenstillstand seit November Hunderte Male gebrochen und greift den Libanon weiterhin täglich an. Die Hisbollah reagiert militärisch kaum, was ihre Schwäche zeigt. Netanyahu hat nach Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober deutlich gemacht, dass er das Gesicht der Region verändern will. Der Libanon ist Teil dieser Strategie. Hunderttausende mussten aus dem Süden fliehen, zehntausende im Norden Israels ebenso.
Nach Gaza war der Libanon das nächste Ziel, um die Hisbollah – und damit auch den Iran – zu schwächen. Der Angriff auf den Iran im Juni wäre ohne die Schwächung der Hisbollah wohl nicht möglich gewesen. Netanyahu verfolgt eine regionale Strategie: Gegner Israels nacheinander ausschalten oder so stark schwächen, dass die anderen nicht mehr eingreifen können.
Abgesehen von den fast täglichen Angriffen flogen vor allem zu Beginn des Sommers nahezu jeden Tag Aufklärungsdrohnen über Beirut. Dieses laute Summen vermittelt ständig das Gefühl, beobachtet zu werden. Es signalisiert: Wir sind da, wir sehen alles, und wenn uns etwas nicht passt, greifen wir ein. Dazu kamen sogenannte Sonic Booms, also Jets, die die Schallmauer durchbrechen und wie Bombenexplosionen klingen. Es besteht ein permanentes Bedrohungsszenario. Das ist für die Menschen im Libanon auch schon lange so.
Viele stellen sich vor: Wenn die Hisbollah weg ist, hört Israel auf anzugreifen. Doch die Erfahrung hier ist eine andere. Israel hat den Libanon auch schon vor der Gründung der Hisbollah 1982 angegriffen – die Hisbollah entstand ja als Reaktion auf den Einmarsch. Auch die libanesische Armee wurde nie gestärkt, weder von innen noch durch internationale Kräfte, sodass sie eine vergleichbare Rolle hätte übernehmen können.
Seit Anfang des Jahres gibt es eine neue Regierung mit einem neuen Präsidenten, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Hisbollah in Absprache mit dem Westen zu entwaffnen. Doch ohne Alternative wird das nicht gelingen.
Man hört durchaus hoffnungsvolle Stimmen: Endlich eine neue Regierung, vielleicht geht es wieder bergauf. Aber zugleich gibt es tiefsitzende Probleme: Korruption, Wirtschaftskrise, Konfessionalismus. Viele können sich keine schnelle Verbesserung vorstellen.
Eine Entwaffnung der Hisbollah wäre nur dann realistisch, wenn Israels Angriffe aufhören und die Bevölkerung ein Gefühl von Sicherheit und Schutz bekommt.
Hanna Voss war Redakteurin bei der taz am Wochenende und arbeitet heute als Programmmanagerin im Auslandsbüro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Beirut. Sie schrieb über die Pager Attacke u. a. für das Magazin zenith.me.