RaBe-Info
Von
Simone Keller
am
24. Januar 2025
Hoffnung und Sorgen: Was kommt nach dem Waffenstillstand in Gaza?
Palästinenser*innen teilen Süssigkeiten bei ihrer Rückkehr nach Rafah, im Süden Gazas nach dem Waffenstillstand (Foto: Eyad Baba/AFP)

Mohamad Talal und Majid Nabil sind Überlebende des Genozids in Gaza. Obwohl seit Sonntag eine vorübergehende Waffenruhe besteht, befinden sich die jungen Männer noch immer im Flüchtlings Camp Nuseirat im mittleren Teil Gazas. Nach dem Einsetzen des vorübergehenden Waffenstillstands möchten die jungen Palästinenser vor allem eines: zurück in den Norden, nach Jabalia. Doch dieser Teil Gazas steht seit Beginn des Oktobers 2024 unter einer von Israel verhängten Blockade.

Und dort ist die Zerstörung am grössten. Auch Majid Nabils Haus im Norden Gazas liege in Trümmern. Majid Nabil sei dankbar immer noch am Leben zu sein. Einfach wird es für den jungen Palästinenser nicht, denn Arbeit habe er keine. So geht es auch dem Automechaniker Mohamad Talal. Auf die Frage, wie er sich nach dem Einsatz des Waffenstillstands gefühlt habe antwortete Mohamad Talal: «Ich habe meinen sieben Monate alten Sohn verloren, deshalb werde ich in der ersten Zeit des Waffenstillstands vor allem Trauer verspüren.»

«In der ersten Zeit des Waffenstillstands werde ich vor allem Trauer verspüren.»
Mohamad Talal Palästinenser aus Jabalia, Nord Gaza

Vielen Palästinenser*innen geht es gleich wie Mohamad Talal und Majid Nabil.  Sie befinden sich trotz des vorübergehenden Waffenstillstands weiterhin in einer Notlage. Auch im Westjordanland intensivieren sich israelische Militäroperationen auf palästinensische Zivilist*innen. Ziele der israelischen Angriffe sind auch immer wieder Gesundheitspersonal und Einrichtungen.

Christian Katzer, Geschäftsführer von «Ärzte ohne Grenzen Deutschland» erzählt im Interview mit RaBe Info von der humanitären Lage der Palästinenser*innen und dem Gesundheitspersonal vor Ort.

RaBe-Info: Wie beurteilen sie die aktuelle humanitäre Lage in Gaza seit dem Einsatz des Waffenstillstands?


Christian Katzer: Der vorläufige Waffenstillstand ist eine Riesenerleichterung. Das höre ich auch von meinen Kolleginnen vor Ort. Die emotionalen Bilder, welche die Menschen auf den Straßen von Gaza zeigen, zeigen auch das Leid, das dieser Krieg verursacht hat. Und diese temporäre Waffenruhe, ist jetzt nur ein Anfang, um den immensen humanitären, psychischen und medizinischen Bedarf in Gaza zu decken.  Denn der hat katastrophale Ausmaß angenommen. Aber ich höre von meinen Kolleginnen auch Hoffnung, dass der Waffenstillstand hält. Und gleichzeitig natürlich die Befürchtung, dass es wieder dahin zurückgeht, wo die Leute herkommen: Keine Sicherheit, hohe Preise, kein Wasser.

«Der vorläufige Waffenstillstand ist eine Riesenerleichterung.»
Christian Katzer Geschäftsführer «Ärzte ohne Grenzen Deutschland»


Wie viel an Hilfsgütern gelangen denn nun tatsächlich nach Gaza?


Wir sehen momentan, dass viel mehr Lebensmittel und Treibstoff in den Gazastreifen kommen. Im Moment sind es mehr als 500 LKWs am Tag. Das führt dazu, dass die Preise für Lebensmittel auf dem Markt immens gesunken sind. An Verteilungsstellen werden wieder Lebensmittel verteilt. Die Güter, auf die wir als medizinische Organisation dringend warten, sind leider noch nicht angekommen. Die stehen immer noch auf der anderen Seite des Gazastreifens, weil die Abfertigungsprozeder für einige Produkte noch immer recht lange ist. Aber wir hoffen natürlich sehr, dass mit einer anhaltenden Waffenruhe auch diese Güter in den Gazastreifen kommen, damit wir adäquat medizinische Hilfe leisten können.


Zu Beginn des Oktobers 2024 hat Israel den Norden Gazas komplett blockiert. Wurde diese Blockade nun aufgehoben?


Der von Israel errichtete Netzarim Korridor ist immer noch intakt. Das heisst, der Norden des Gazastreifens ist immer noch abgeschnitten von dem Rest des Gazastreifens. Die Verhandlungen dazu laufen aber und nach meiner Kenntnis sollte wahrscheinlich schon am kommenden Wochenende auch der Norden des Gazastreifens zugänglich sein. Denn was wir von dort bis jetzt gehört haben, ist, dass die Menschen wirklich keinen Zugang zu materieller Hilfe haben und, dass es kaum Gesundheitsversorgung gibt.

«Seit dem Waffenstillstand im Gazastreifen, haben im Westjordanland Angriffe, Gewalt, Massenverhaftungen und gewaltsame Übergriffe zugenommen. »
Christian Katzer Geschäftsführer «Ärzte ohne Grenzen Deutschland»


Im Dezember wurde auch das letzte funktionierende Krankenhaus, das Kamal Adwan Spital, durch israelische Angriffe ausser Betrieb gesetzt. Die Festnahme des Direktors dieses Spitals, Dr. Hussam Abu Safiya, sorgte international für Aufsehen. Gibt es Informationen zum Gesundheitspersonal in den israelischen Gefängnissen?


«Ärzte ohne Grenzen» arbeitet nicht in den israelischen Gefängnissen. Daher habe ich auch keine detaillierten Informationen zu der Lage dort. Ich mache mir Sorgen, wenn Spitäler und Personal angegriffen werden. Das führt zu einem hohen Risiko für Patientinnen und Kolleginnen von mir. Deswegen ist es wichtig, dass in Konfliktgebieten und Konfliktsituationen Krankenhäuser als neutraler Ort angesehen und anerkannt werden und nicht in die Kampfhandlungen einbezogen werden.


Seit Beginn des Krieges haben auch acht Personen aus dem Personal von «Ärzte ohne Grenzen» ihr Leben verloren. Das schreibt die Organisation auf ihrer Webseite. Was können sie zu diesen Umständen sagen?


Jeder einzelne von den Getöteten ist eine grosse Tragödie und meine Gedanken sind bei den Familien der Kolleginnen, aber auch bei den Menschen im Gazastreifen, wo wir viele tausende Tote gesehen haben. Zum Teil wurden die Kolleginnen in ihren Häusern getroffen und sind oft mit ihren Familien zusammen umgekommen. Wir haben Kollegen, die bei der Ausübung ihrer Arbeit im Krankenhaus direkt angegriffen und getötet wurden. Diese Angriffe auf medizinisches Personal widersprechen völlig den Richtlinien des internationalen Völkerrechts und sind absolut verurteilungswürdig. Und ich wünsche mir sehr, dass in zukünftigen Konflikten medizinisches Personal besser geschützt ist und auf die Neutralität von Krankenhäusern geachtet wird.

Wie blicken sie nun auf die nächsten Monate in Gaza und auch auf die Westbank? Dort hat die Gewalt an palästinensischen Zivilist*innen durch israelische Militäroperationen und Angriffe durch Siedler*innen zugenommen.


Wir sehen seit dem Waffenstillstand im Gazastreifen, dass im Westjordanland Angriffe, Gewalt, Massenverhaftungen und gewaltsame Übergriffe zugenommen haben. Schon vor einigen Tagen mussten wir als «Ärzte ohne Grenzen» unsere Aktivitäten in Dschenin, Hebron und Nablus aufgrund von Sicherheitsbedenken sehr stark reduzieren, zum Teil einstellen. Und auch hier ist es wichtig, dass medizinische Einrichtungen geschützt werden und Menschen Zugang zu medizinischen Einrichtungen haben. Im Gazastreifen hoffen wir sehr, dass die momentane Waffenruhe hält und dass der Zugang für humanitäre Helfer in den Gazastreifen erleichtert wird. Denn der Bedarf im Gaza immens. Aber wenn wir die Zerstörung im Gazastreifen sehen, dann braucht es internationale Unterstützung über die nächsten Jahre.

«Wenn wir die Zerstörung im Gazastreifen sehen, dann braucht es internationale Unterstützung über die nächsten Jahre.»
Christian Katzer Geschäftsführer «Ärzte ohne Grenzen Deutschland»
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