Nach dem Überfall von El Fascher durch die Rapid Support Forces (RSF) sind noch immer Tausende Menschen vermisst. Die UNO und Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen warnen vor weiteren ethnisch motivierten Massakern an der Bevölkerung. Ärzte ohne Grenzen unterstützt im nächstgelegenen Tawila Verwundete und Kranke Menschenen. Vittorio Oppizzi Projektkoordinator im Sudan von Ärzte ohne Grenzen und erzählt im Gespräch von der Lage vor Ort.
Vittorio Oppizzi (MSF): Die aktuelle Lage in Tawila ist sehr kritisch, und das leider schon seit mehreren Monaten. Tawila ist die erste Anlaufstelle für Menschen, die aus El Fascher fliehen. El Fascher wird seit über einem Jahr belagert. Die Menschen haben dennoch verschiedene Wege gefunden, um dieser schrecklichen Situation zu entkommen und nach Tawila zu gelangen. Unser Team leistet in Tawila seit über einem Jahr Hilfe für alle Vertriebenen. In der letzten Woche haben wir begonnen, Kriegsverletzte aufzunehmen. Zusätzlich haben wir alle Menschen aufgenommen, die in diese Richtung fliehen wollten. Wir haben die direkten Auswirkungen des Konflikts und der Gewalt gesehen, die nach dem Ende dieser Belagerung ausgebrochen sind. Es handelte sich neben Verwundeten auch um extrem unterernährte Kinder und Erwachsene, was sehr beängstigend und besorgniserregend ist.
Das ist die Frage, die wir uns auch gestellt haben. Die Flucht ist sicherlich nicht einfach. Nach dem Ende der Belagerung El Fascher’s haben wir wohl alle die schrecklichen Bilder der Gewalt gesehen.Wir können uns also das Schlimmste vorstellen. Von den Patienten, die wir in Tawila behandeln konnten, hören wir unter anderem, dass manche Menschen einfach gefangen sind. Sie haben keine Möglichkeit zu fliehen. Einigen wird die Flucht verboten, andere werden getötet. Einige fliehen in den Tschad. Sie kommen also vielleicht nicht nach Tawila, sondern suchen anderswo Zuflucht.
Es handelt sich hier nicht um eine Frontlinie, sondern um eine Belagerung. Egal in welcher Richtung man geht, man läuft in jedem Fall auf die Angreifer zu. Das ist die Brutalität des Angriffs. Und es ist eine Wiederholung von dem, was wir schon gesehen haben. Vor einigen Monaten wurde Zam Zam, etwas ausserhalb gelegen von El Fascher, angegriffen. Die Menschen haben versucht in alle Richtungen zu fliehen. Wir haben Berichte über eine steigende Zahl von Flüchtlingen im Tschad gehört. Andere sind tatsächlich in Richtung Tawila geflohen. Andere wiederum, so befürchte ich, können überhaupt nicht fliehen.
Ärzte ohne Grenzen arbeitete vor der Belagerung in El Fascher. Leider mussten wir den Betrieb einstellen, als es zu gewalttätig und zu gefährlich wurde. Natürlich hat die Sicherheit unserer Mitarbeitenden und der Patienten oberste Priorität. Deshalb war Tawila der sicherste und nächstgelegene Ort, an dem wir der Bevölkerung vor Ort helfen konnten. Aber wie immer, werden wir als Organisation sehr flexibel bleiben. Sobald es die Umstände erlauben, werden wir uns bemühen, wieder in El Fascher zu arbeiten.
Leider ist das Gesundheitssystem nach zweieinhalb Jahren Konflikt weitgehend zusammengebrochen. Das gilt natürlich derzeit ganz offensichtlich für El Fascher oder im Staat Kordofan, wo aktiv an der Front gekämpft wird. Oder für Regionen in Darfur, die beispielsweise abgeschnitten sind. Die Mitarbeitenden des Gesundheitsministeriums berichten uns, dass sie manchmal keine Gehälter erhalten und dass es an Medikamenten mangelt. Wenn wir hören, dass der Konflikt seit zweieinhalb Jahren andauert, bedeutet das, dass beispielsweise seit zweieinhalb Jahren keine Impfungen für Kinder und andere grundlegende Gesundheitsdienstleistungen mehr stattfinden. Das führt zu einer schrecklichen Situation auch ür diejenigen, die nicht direkt von der Gewalt des Konflikts betroffen sind.
Wir haben in den zweieinhalb Jahren dieses Konflikts wiederholt Warnungen ausgesprochen, aber leider wurden wir nicht gehört. Das sudanesische Volk wurde nicht gehört. Und dieser Konflikt ist, wie wir vor einiger Zeit beschrieben haben, nach wie vor ein Krieg gegen die Bevölkerung, ein Krieg, der keine Zivilist*innen verschont. Er verschont auch keine zivile Infrastruktur, einschliesslich der Gesundheitsversorgung. Und es gibt keine Achtung vor dem humanitären Völkerrecht. Auch nicht vor dem Grundprinzip des Schutzes des Lebens von Zivilist*innen.
Zunächst einmal hat die sudanesische Zivilgesellschaft eine grosse Stärke. Wir haben zum Beispiel von der Emergency Response Room gehört, einer Basisorganisation, die mit ihrer Gemeinschaftsküche vielen Menschen eine wichtige Lebensgrundlage bietet. Und es gibt Sudanes*innen, die zum Beispiel mit Ärzte ohne Grenzen zusammenarbeiten. Sie sind nicht nur Opfer des Krieges, sondern gehen auch ein zusätzliches Risiko ein, indem sie mit uns arbeiten. Letztendlich brauchen wir jedoch mehr Aufmerksamkeit für den Konflikt im Sudan. Wenn weltweit mehr Aufmerksamkeit auf die Gewalt gelenkt wird, können hoffentlich alle, die Einfluss auf die Kriegsparteien haben, dazu beitragen, die Gewalt zu beenden.
Vittorio Oppizzi ist Projketkoordinator im Sudan für Ärzte ohne Grenzen (MSF).
Das Interview hier nachhören.