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27. Oktober 2025
Die Allianza Ambulanza schafft in der Tiefenau Tatsachen
David Fürst
Foto: David Fürst Die Besetzer*innen stehen vor dem Verwaltungsgebäude des ehemaligen Tiefenauspitals.

Bereits bei der Ankunft fallen die vielen Kinder auf: Sie spielen Fussball im Garten vor dem Verwaltungstrakt des ehemaligen Tiefenauspitals oder springen auf einem Trampolin.

Es ist Samstagnachmittag, der zweite Tag der Besetzung auf dem weitgehend leerstehenden Areal. «Begutachtet, besetzt, belebt», steht auf einem Transparent an der Fassade des Verwaltungstrakts.

Wer in das besetzte Gebäude eintritt wird sogleich in Empfang genommen. Ein Mitglied des Besetzer*innen-Kollektivs erklärt die wichtigsten Grundsätze. Das Kollektiv, das sich «Allianza Ambulanza» nennt, lehnt jede Form der Diskriminierung ab und will neben der Sorge zu den Mitmenschen auch Sorge zum Haus tragen. Im Klartext bedeutet das: keine Sticker und keine Tags.

Auch im Inneren des Gebäudes fallen die vielen Kinder auf. Sie laufen johlend im Haus umher, bedienen sich am Buffet und fragen die Besetzer*innen, ob sie ihnen beim Aufstellen der Musikanlage helfen können. Die meisten von ihnen kommen von der nahe gelegenen Kollektivunterkunft für Asylsuchende.

Bereits am Vorabend seien viele Menschen aus der Unterkunft die Besetzung besuchen gekommen, erzählt Ernesto, Teil des Kollektivs Allianza Ambulanza: «An der Disco gestern Abend sind viele Kinder tanzen gekommen – die Freude stand ihnen förmlich ins Gesicht geschrieben.»

Ernesto heisst eigentlich anders, will seinen richtigen Namen aber lieber nicht in den Medien lesen. Ernesto ist es zudem wichtig, zu betonen, dass er nicht für das gesamte Kollektiv spricht. «Ich schildere lediglich meine persönlichen Eindrücke und Meinungen.» Und Ernesto zeigt gerne, was in den ersten Tagen der Besetzung bereits passiert ist.

«Wenn man einen solchen Raum öffnet, geschehen die Dinge einfach.»
Ernesto Besetzer

So führt er beispielsweise in den Keller in ein langgezogenes Gewölbe. Es ist jener Ort, an dem sich Jung und Nicht-mehr-ganz-so-jung am Vorabend von der Musik durch den Kunstnebel treiben liessen.

In der Vorstellung Ernestos lagerte die Spitaldirektion hier einst ihren guten Wein. Das Ende des Gewölbes verliert sich irgendwo im Dunst.

Ein Hauch von Magie macht’s möglich

Ein Stockwerk darüber befindet sich unter anderem eine Küche, ein Flohmarkt, ein Malatelier und eine Siebdruckwerkstatt. Diese befindet sich im ehemaligen Badezimmer. Der eingebaute Föhn eignet sich bestens, um die frisch bedruckten Textilien trocknen zu lassen. Der Geruch von Farbe erfüllt den Raum.

Noch ein Stockwerk weiter oben stehen die meisten Räume leer. Und ganz zuoberst regt ein Raum die Fantasie der Besetzer*innen besonders an: Die alte Holzleiter knackt und knurrt beim Hochsteigen auf den Estrich. Unter dem Dachstock entsteht eine dumpfe und zugleich geborgene Atmosphäre. Der Raum könnte Platz für ein Kino bieten, einen Meditationsraum oder eine Bibliothek beherbergen, sinnieren die Besetzer*innen vor sich her.

Es ist diese Dynamik, die für Ernesto die Besetzung ausmacht: «Wenn man einen solchen Raum öffnet, geschehen die Dinge einfach – dem liegt eine gewisse Magie inne.» Das könne die Stadt im Gegensatz zur Besetzung nicht bieten. Mit dieser Dynamik will das Kollektiv «Allianza Ambulanza» deshalb dort ansetzen, wo die Stadt bisher gescheitert sei. Diese habe sich in den vergangenen zwei Jahren zwar um Zwischennutzungen bemüht. Doch ausser der Kollektivunterkunft für Geflüchtete im Hauptgebäude sei bisher fast nichts zu Stande gekommen.

Grund dafür ist für Ernesto die Miete für Zwischennutzungen. «Die Vorstellungen der Stadt bezüglich Miete schliessen nichtkommerzielle Nutzungen von vornherein aus», ist er überzeugt.

«Wir können dort in die Bresche springen, wo im Asylwesen die Mittel fehlen.»
Ernesto Besetzer

Einige Zwischennutzungsprojekte ist die Stadt jedoch schon angegangen. Darauf weist auch Immobilien Stadt Bern (ISB) hin. In den vergangenen Monaten habe sich hinter den Kulissen viel getan, schreibt ISB auf Anfrage: «Es wurden Bestandesaufnahmen aller Gebäude erstellt, Quartierworkshops durchgeführt, im Oktober 2024 wurde die grösste Asylunterkunft der Schweiz eröffnet, es wurden Verhandlungen mit Mietinteressenten geführt, das technische Facility-Management wurde mit einer öffentlichen Beschaffung organisiert, es wurden Baueingaben gemacht, Baukredite bei den zuständigen Gremien geholt.» Diese Arbeiten würden viel Zeit benötigen, betont ISB.

Dass die Stadt bereits einige Schritte in Richtung Zwischennutzung unternommen hat, anerkennt auch das Kollektiv «Allianza Ambulanza». Deshalb haben sich die Besetzer*innen für jenes Gebäude entschieden, in dem die Stadt ihrer Meinung nach keine konkreten Pläne habe.

Weitere Gespräche sind geplant

Für die Besetzer*innen bietet sich das ehemalige Tiefenauspital nicht nur deshalb an, weil es viele Räume bietet. Weil die Kollektivunterkunft einen Mietvertrag von zehn Jahren hat, werde sich auf dem Areal in nächster Zeit nicht viel ändern, meint Ernesto.

Durch die Nähe zur Kollektivunterkunft wollen die Besetzer*innen zudem Angebote für die Geflüchteten anbieten. Auch hier sieht sich die Besetzung als Lückenfüllerin. «Wir können dort in die Bresche springen, wo im Asylwesen die Mittel fehlen», sagt Ernesto dazu. So könnten etwa Beratungsangebote im besetzten Gebäude Raum erhalten.

Um eine längerfristige Nutzung sicherzustellen, habe das Kollektiv von Beginn weg den Kontakt zur Stadt gesucht, erzählt Ernesto. Am Freitagmorgen sei denn auch eine Delegation von Immobilien Stadt Bern (ISB) vor Ort gewesen. ISB bestätigt auf Anfrage, dass diese Gespräche stattgefunden haben.

Ernesto beschreibt das Zusammentreffen mit der Verwaltung als respektvoll. Man habe sich darauf geeinigt, am Montagnachmittag weitere Gespräche zu führen.

Am Montagabend gaben die Besetzer*innen auf ihrem Instagram-Account bekannt, dass sie sich mit der Stadt darauf geeinigt haben, die Gespräche aufrecht zu erhalten. Dem Post zufolge hat eine Fachperson des Trägervereins offene Jugendarbeit (toj) den Austausch moderiert. Auf Anfrage sagen die Besetzer*innen, das Gespräch sei gut verlaufen, die Stadt habe signalisiert, dass Sie die angedachten Nutzungen ermöglichen wollen – von einem Ultimatum ist nicht die Rede.

Knackpunkte bleiben gemäss den Besetzer*innen allerdings Fragen nach der Miete und nach Verantwortlichkeiten wie beispielsweise der Brandschutz. Die Stadt habe die Möglichkeit ins Spiel gebracht, dass die Besetzer*innen das Gebäude vorübergehend verlassen, damit die Stadt Vorkehrungen treffen kann. Die Liegenschaft wäre in diesem Fall im Sommer wieder bezugsbereit und die Besetzer*innen könnten die Räume zu einem gegeben Zins mieten. Für das Kollektiv bleibt dabei die Kritik an den zu hohen Mietpreisen bestehen. Die beiden Parteien wollen hier weiter nach Lösungen suchen.

Das nächste Gespräch ist am kommenden Montag anberaumt. Bis dahin bleibt die Besetzung also voraussichtlich auf dem Areal des ehemaligen Tiefenauspital. Je nachdem, wie die weiteren Gespräche verlaufen, könnte die Besetzung der «Allianza Ambulanza» noch eine Weile ein Ort bleiben, an dem gemalt, getanzt und gesiebdruckt wird und an dem sich Kinder wohl fühlen.

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