Vor vier Jahren hat die Taliban die Kontrolle über das Land übernommen. Die schnelle Machtübernahme, die fehlenden Übergangsregelungen sowie der abrupte Wegfall der internationalen Hilfe haben Afghanistan in eine schwierige Lage versetzt. Gemäss der Schweizerischen Flüchtlingshilfe leben über 90 Prozent der Afghan*innen in Armut, über 20 Millionen Menschen sind humanitäre Hilfe angewiesen.
Auch die rechtliche und soziale Lage in Afghanistan habe sich dramatisch verändert, so Beat Gerber von Amnesty International. Die Taliban haben das bestehende Rechtssystem abgeschafft und durch eine streng religiöse Ordnung ersetzt- Dies habe gravierende Auswirkungen auf die Menschenrechtslage im Land, die weiterhin prekär bleibe und weit von internationalen Normen entfernt sei.
Gemäss Amnesty International fänden Gerichtsverfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, ohne unabhängige Kontrolle oder faire Verfahren. Richterliche Unabhängigkeit gäbe es nicht, und der Zugang zu Rechtsbeiständen sei stark eingeschränkt. Urteile variiert je nach Provinz und den jeweiligen Richtern, was zu einer willkürlichen Rechtsanwendung führe. Strafen wie Auspeitschungen, Folter und Hinrichtungen auf öffentlichen Plätzen seien keine Seltenheit.
Besonders betroffen von der Unterdrückung der Taliban seien Oppositionelle, ehemalige Regierungsmitarbeiter und ethnische Minderheiten. Frauen haben unter der Taliban-Herrschaft besonders gelitten. Sie sind weitgehend aus dem Rechtssystem ausgeschlossen und haben kaum noch Zugang zu Schutz oder Vertretung in Gerichtsverfahren. Beat Gerber betont: «Das Fehlen von Frauen in der Justiz und der Wegfall spezieller Institutionen für den Schutz von Frauen verschärft ihre Rechtslosigkeit.»
Viele Menschen flüchten aufgrund der humanitären Lage oder der Verfolgung durch die Taliban in die benachbarten Länder. Auch in der Schweiz suchen Menschen aus Afghanistan Schutz. Seit mehreren Jahren gehört Afghanistan zu den wichtigsten Herkunftsländern von Asylsuchenden in der Schweiz. Gemäss zahlen der Asylstatistik des Staatssekretariats für Migration wurden im vergangenen Jahr über 8600 Asylgesuche von Afghan*innen gestellt. Seit diesem Jahr sind es über 2900.
Im August 2021 hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) angesichts der sich dramatisch verschärfenden Situation bekanntgegeben, Wegweisungen nach Afghanistan vorläufig auszusetzen und auf Rückführungen zu verzichten. Seit April 2025 gilt gemäss Wegweisungspraxis des SEM eine Rückkehr in gewissen Fällen als Zumutbar. Konkret: junge afghanische Männer, deren Asylgesuch abgelehnt wurden, können von der Schweiz wieder ausgewiesen werden - sie werden nicht mehr vorläufig aufgenommen.
Das Staatssekretariat für Migration antwortete auf Anfrage gegen über RaBe-Info, dass seit der Anpassung der Praxis bisher 20 Asylgesuche von männlichen afghanischen Personen abgelehnt und der Wegweisungsvollzug angeordnet worden sei. Dabei handle es sich um eine verhältnismässig geringe Zahl von afghanischen Männern, die in diese definierte Personenkategorie fallen, so das SEM. Für Beat Gerber stellt die neue Praxis ein möglicher Dammbruch dar: «Die Schweiz untergräbt das Non-Refoulement-Prinzip.» Das besagt, dass Menschen nicht in ein Land zurückgeschickt werden dürfen, in dem ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. In Afghanistan gäbe es keine Garantie für die Sicherheit von abgewiesenen Personen, und die schweizerischen Behörden können die tatsächliche Lage vor Ort nicht verlässlich beurteilen, so Gerber.
Amnesty fordert von der Schweiz ein stärkeres Bekenntnis zu den Menschenrechten und eine klare Haltung gegenüber der autoritär regierenden Taliban. Ein Rückführungsstopp und eine umfassende Unterstützung der afghanischen Geflüchteten in der Schweiz seien notwendig, um die humanitäre Verantwortung zu wahren, fährt Gerber fort und hält fest: «Wir appellieren an die Humanität und an die Menschlichkeit.»
Das Interview mit Beat Gerber, Mediensprecher von Amnesty International: