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15. Dezember 2025
Heilung, Widerstand, Community: Das café révolution gewinnt den Berner Sozialpreis
café révolution
Foto: café révolution Das Kollektiv des café révolution: Eleni Helbling, Anna Chiedza Spörri, Mona-Lisa Kole, Tara Ismael Disasi; vorne: Gloria Peña-Triana, Muriel Scholl

Ein Schutzraum für Schwarze Frauen in Bern: Das café révolution wird mit dem Berner Sozialpreis augezeichnet. Wieso ist es wichtig, einen solchen Safer Space für Schwarze und Schwarz gelesene Frauen und Femmes zu kreieren? Darüber haben wir mit Muriel Scholl, Eleni Helbling, Tara Ismael Disasi und Anna Chiedza Spörri vom café révolution gesprochen.

RaBe Info: Vielen Dank, dass ihr euch Zeit nehmt, und herzliche Gratulation zum Sozialpreis! Wir sitzen hier in eurem Raum, café révolution, das seit 2020 besteht. Begonnen hat das Projekt mitten in der Black Lives Matter-Bewegung und während der Corona-Zeit. Könnt ihr erzählen, wie die Idee damals entstanden ist?

Anna Chiedza Spörri: «Angefangen hat es mit einer Nachricht im überregionalen Bla*Sh Chat [Bla*Sh: ein Schwarzfeministisches Netzwerk aus der Deutschschweiz, Anm.d.Red.]. Dort gab es den Aufruf, dass ein Lokal frei wird, und die Idee entstand, einen Space zu schaffen, in dem Schwarze und Schwarz gelesene Menschen sich wohlfühlen und einen Safe Space haben, einen Rückzugsort. Das Lokal hätte ursprünglich ein Café werden sollen, aber wir merkten schnell, dass die Kapazitäten dafür nicht ausreichen. Wir suchten nach einem Raum und bewarben uns im PROGR, wo gerade ein Raum frei war. Den bekamen wir, und so entstand das café révolution. Unsere Idee war es, uns rassifizierten Personen in der Schweiz einen Ort zu geben, wo wir einfach sein können: lachen, tanzen, feiern, uns weiterbilden, lesen, diskutieren – alles, was unser Herz begehrt. In den letzten fünf Jahren hat sich der Raum durch Höhen und Tiefen entwickelt, durch Phasen mit viel oder wenig Aktivität. Die Community ist gewachsen, die Menschen, die den Raum gestalten, haben sich verändert, auch die Pflanzen sind gewachsen, gestorben, neue wurden gekauft. So sind wir heute hier, und das seit fünf Jahren.»

RaBe Info: Wieso braucht es einen Safer Space für Schwarze Frauen und Femmes?

Muriel Scholl: «Weil wir in einer weissen, patriarchalen Gesellschaft leben, brauchen Menschen, die selten eine Plattform haben und nicht gesehen werden, einen Raum, wo sie zusammenkommen können. Menschen können hier ihre Lebensrealitäten teilen und erkennen, dass die eigenen Unterschiede weniger gross sind, als man denkt. Ein Beispiel ist unsere Poetry Night, wo Menschen ihre Erfahrungen teilen. Wir lachen zusammen, weinen, feiern. Das gibt Stärke und Empowerment im Alltag.»

Eleni Helbling: «Es gibt Studien die zeigen, dass gegen Rassismus noch zu wenige Massnahmen existieren. Das ist eine grosse Lücke. Weil die Strukturen fehlen, entschieden wir, es selbst in die Hand zu nehmen. Es gibt einen gesellschaftlichen Bedarf nach solchen Räumen, um Dialoge zu führen und antirassistisch, antisexistisch und intersektional lernen zu können – gerade auch, weil wir hier aufgewachsen sind.»

«Rassismus ist nicht nur ein individuelles Problem der Betroffenen, sondern betrifft auch die weisse Gesellschaft, die diese Strukturen aufrechterhält und davon profitiert»
Tara Ismael Disasi café révolution

RaBe Info: Es gibt in der Schweiz sehr wenige Daten zu Rassismus. Was für Wissen fehlt? Wo ist die Lücke?

Anna Chiedza Spörri: «Es fehlt Wissen, aber auch an Betroffenheit und am Willen. In der Schweizer Gesellschaft werden viele Probleme nicht als solche anerkannt. Fortschritte geschehen oft sehr langsam; sei es in Kunst, Kultur oder in der Rassismusdebatte. Es fehlt an Anerkennung der Kolonialgeschichte und deren Aufarbeitung. Auch in Schulen oder im Lehrplan wird vieles selektiv behandelt. In der Kultur wird manches aufgearbeitet, aber auch dort sehr langsam.»

Tara Ismael Disasi: «Wissen fehlt auch dahingehend, dass Rassismus oft nur auf individueller Ebene gesehen wird. Dabei ist Rassismus auch strukturell und institutionell. In der Schweiz denkt man häufig, es betreffe nur Randgruppen, dabei betrifft es sehr viele Menschen und belastet sie stark. Rassismus ist nicht nur ein individuelles Problem der Betroffenen, sondern betrifft auch die weisse Gesellschaft, die diese Strukturen aufrechterhält und davon profitiert.»

Muriel Scholl: «Systematische Aufklärung muss in allen Strukturen passieren, zum Beispiel in Schulen. Dafür braucht es Ressourcen, die aber fehlen. Man kann nicht erwarten, dass sich alle selbst aufklären. Es braucht finanzielle Mittel, um Diskriminierung systematisch zu reduzieren. In der Schweiz ist man in manchen Bereichen weit zurück, z. B. bei Bewerbungen: Es wird noch oft nach Foto oder vollem Namen gefragt, obwohl schon viele Massnahmen gegen damit zusammenhängende Diskriminierung existieren. Es braucht Veränderung.»

Tara Ismael Disasi: «Deshalb ist es essenziell, dass es Räume gibt, die diskriminierungsarm sind. Räume, in denen wir uns austauschen, verstanden werden und unser Erlebtes teilen können – ohne uns erklären zu müssen.»

Anna Chiedza Spörri:: «Es ist auch viel günstiger, als wenn wir alle in Therapie müssten. (lacht). Aber vor allem ist es heilend und selbstermächtigend, in diesen Raum zu kommen, Kraft zu tanken und die Dinge in der Aussenwelt zu konfrontieren. Wir sehen uns als wichtigen Punkt in der Bekämpfung von Rassismus und in der Selbststärkung Betroffener.»

«Für mich geschieht es einerseits zu wenig, andererseits finde ich beängstigend, dass es in den letzten zwei Jahren Rückschritte gab. Global beobachten wir eine Rechtsverschiebung, und auch in der Schweiz verschärfen sich insbesondere Asylthemen. Oft ist e»
Murien Scholl café révolution

RaBe Infp: Ihr habt erzählt, wie die Anfangsphase mitten in Corona mit den Black Lives Matter Protesten war. Es gab in Bern in den letzten Jahren die Wandbild-Debatte. Gesellschaftlich wurden einige Diskurse über Rassismus, Antirassismus und die koloniale Vergangenheit der Schweiz geführt. Erlebt ihr eine Verschiebung in der Gesellschaft?

Eleni Helbling: «Ich denke, es gibt eine Verschiebung, aber sie ist sehr langsam und geschieht nur tröpfchenweise. Wir sind noch weit davon entfernt, wo wir sein sollten. Oft wird das Thema medial ausgeschlachtet – nicht um zu sensibilisieren, sondern um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Es fehlt an Investitionen und Engagement.»

Muriel Scholl: «Für mich geschieht es einerseits zu wenig, andererseits finde ich beängstigend, dass es in den letzten zwei Jahren Rückschritte gab. Global beobachten wir eine Rechtsverschiebung, und auch in der Schweiz verschärfen sich insbesondere Asylthemen. Oft ist es eher ein Schritt vor und zwei zurück.»

Tara Ismael Disasi: «Ich sehe das ähnlich. Fortschritt passiert nur unter massivem Widerstand. Diese Veränderungen geschehen nicht einfach so, sie erfordern enorme Kraft, weil es grossen Widerstand gegen antirassistisches Handeln gibt. Das erschwert den Fortschritt erheblich.»

Anna Chiedza Spörri: «Ich möchte noch ergänzen, dass es auch sehr von der Bubble abhängt, in der man sich befindet. Es gibt Bubbles, in denen der Fortschritt weitergeht, andere, wo er gar nicht begonnen hat, und wieder andere, die Rückschritte machen. Deshalb habe ich kein generelles Gefühl von Fortschritt. Menschen, die Rassismus erfahren, sind ja auch ausserhalb ihrer eigenen Bubbles damit konfrontiert und merken, dass nicht alle in antirassistischer Richtung denken oder handeln.»

«Rassismus ist eine gesellschaftliche Realität in der Schweiz, und das Wissen darüber muss in Bildung, Verwaltung, Justiz und Gesundheitswesen verankert werden.»
Anna Chiedza Spörri café révolution

RaBe Info: Der Bundesrat hat soeben einen Aktionsplan gegen Rassismus und Antisemitismus lanciert. Es geht auch darum, konkrete Daten zu sammeln. Habt ihr eine Haltung zu diesem Aktionsplan?

Anna Chiedza Spörri: «Wir finden den Aktionsplan gegen Rassismus und Antisemitismus grundsätzlich wichtig und gut. Es ist eine zentrale Forderung, die von vielen Organisationen und Betroffenencommunitys gefordert wird. Entscheidend ist, dass die Massnahmen nicht nur auf Bundesebene geplant, sondern auch auf kantonaler und kommunaler Ebene umgesetzt und finanziell abgesichert werden. Denn nach wie vor besteht ein großer Handlungsbedarf in der Schweiz, und Ressourcen für Organisationen und Aktionen sind nötig. Viel Arbeit wird aktuell freiwillig und oft prekär erledigt. Zudem ist die Rechtslage lückenhaft. Im Zivilrecht fehlt weitgehend ein wirksamer Diskriminierungsschutz, und das Strafrecht ist nur rudimentär ausgestaltet. Das muss dringend verbessert werden. Rassismus ist eine gesellschaftliche Realität in der Schweiz, und das Wissen darüber muss in Bildung, Verwaltung, Justiz und Gesundheitswesen verankert werden. Eine Institutionalisierung dieses Wissens, wie sie auch im Aktionsplan vorgesehen ist, ist daher sehr wichtig. Wir begrüssen auch, dass verschiedene Formen von Rassismus explizit genannt werden – antischwarzer, antimuslimischer, antiromaischer, antiasiatischer, antijüdischer Rassismus sowie Antisemitismus – und differenziert adressiert werden. Das ist essenziell, um Rassismus gezielt angehen zu können. Zudem wird Rassismus nicht nur im Kontext von Migration behandelt, was wir ebenfalls als wichtigen Schritt sehen.»

RaBe Info: Mich würde interessieren, wie eure Wochen hier aussehen. Was passiert hier im Raum?

Tara Ismael Disasi: «Die einzige kontinuierliche Struktur sind unsere wöchentlichen Vorstandssitzungen. Jeden Dienstagabend besprechen wir alles Organisatorische und welche Events anstehen. Unsere Events sind sehr unterschiedlich: Veranstaltung für  queere rassifizierte Personen, oder Lesekurse, wo über Artikel diskutiert wird. Teilweise freitags abends gibt es den Safer Space Afternoon, wo man vorbeikommen, Tee trinken und sich austauschen kann.»

Eleni Helbling: «Alles wird von Freiwilligen getragen, nicht nur vom Kollektiv, sondern auch von unserer Community. Hätten wir finanzielle Stabilität, könnten wir den Raum öfter öffnen. Vieles ist unbezahlte Arbeit, die hier investiert wird, und deshalb ist eine regelmässige Öffnung schwierig.»

Anna Chiedza Spörri: «Trotzdem lebt der Raum unter der Woche: Viele arbeiten hier, treffen sich auf einen Kaffee, machen Homeoffice oder Meetings. Die Community hält den Raum aktiv, auch mit alltäglichen Aufgaben wie Pflanzen giessen oder Post holen. Wir sind mitten in der Stadt, also ist immer etwas los.»

Tara Ismael Disasi: «Konkret: Am 26. Dezember findet unser jährliches Winterdinner hier im Café statt, zu dem alle eingeladen sind.»

«Nach fünf Jahren Safer Space in Bern ist das eine unglaublich tolle Anerkennung. Es zeigt, dass wir zu Bern gehören und hier nicht mehr wegzudenken sind, und dass die Stadt das auch so sieht.»
Eleni Helbling café revolution

RaBe Info: Ihr habt jetzt den Berner Sozialpreis gewonnen, der mit 7'000 Franken dotiert ist. Wie ist das für euch, diese Anerkennung zu erhalten?

Eleni Helbling: «Wir freuen uns riesig. Nach fünf Jahren Safer Space in Bern ist das eine unglaublich tolle Anerkennung. Es zeigt, dass wir zu Bern gehören und hier nicht mehr wegzudenken sind, und dass die Stadt das auch so sieht.»

Tara Ismael Disasi: «Uns freut auch, dass wir eine Spende erhalten haben, über die wir frei verfügen dürfen. Häufig bei Förderanträgen ist das Geld zweckgebunden, z. B. für ein konkretes Projekt. Dabei wird oft vergessen, dass wir hier einen physischen Raum haben, der monatlich Geld kostet. Mit diesem Preis können wir frei entscheiden, wofür wir die Mittel einsetzen.»

Muriel Scholl: «Der Stempel der Validierung durch die Stadt tut sehr gut. Es ist Anerkennung unserer Arbeit, man wird gesehen und erhält Ressourcen, die oft fehlen. Es kostet viel Energie und ist kostspielig, wie Tara sagte. Solche Momente sind sehr wichtig, um gesehen zu werden.»

Eleni Helbling: «Ich möchte noch ergänzen: Dass wir das Geld frei verwenden können, ermöglicht uns, Events zu kreieren, wie wir es schon immer tun. Die Events bei Café revolution sind zu 99 % kostenlos, also man muss nicht ins Portemonnaie greifen, um Kultur und Gemeinschaft zu erleben. Frei verfügbares Geld ist entscheidend, um die Zugänglichkeit zu bewahren.»

Berner Sozialpreis 2025

Soeben wurde der Berner Sozialpreis vergben. Dieses Jahr geht der Preis an vier Projekte, die für bestimmte Personengruppen einen Safer Space schaffen. Neben dem café revolution wurde die Areitsgemeinschaft christlicher Kirchen Region Bern für ihren Aufenthaltsraum in der Postgasse mit 7'000 Franken ausgezeichnet. Je 3'000 Franken erhalten der Regenbogentreff Bern für Kinder und Jugendliche sowie «Ds Gäube Bänkli», eine von langjährigen YB-Fans gegründete Anlaufstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt.

 

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