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17. September 2025
«Mich interessieren die unsichtbaren Verflechtungen»
David Aebi (Kunsthalle Bern)
Foto: David Aebi (Kunsthalle Bern) Eine monochrom gewordene Trikolore auf gelbem Hintergrund – Sung Tieu setzt sich mit den Spuren des Kolonialismus in Vietnam auseinander

Die Künstlerin Sung Tieu zeigt in der Kunsthalle Bern, wie die Schweiz in koloniale Strukturen in Vietnam eingebunden war, ohne eigene Kolonien zu besitzen.

RaBe Info: Sung Tieu, ihre Ausstellung thematisiert die Rolle der Schweiz in kolonialen Verflechtungen – konkret etwa in der Kautschukproduktion in Vietnam. Die Schweiz hatte keine Kolonien, war aber dennoch in koloniale Wirtschaftsnetze eingebunden. Wie gehen Sie in Ihrer Arbeit mit dieser indirekten kolonialen Vergangenheit um?

Sung Tieu: Mir geht es weniger um territoriale Herrschaftsgrenzen, sondern um Verflechtungen: wirtschaftliche Zusammenhänge, institutionelle Nähe, wissenschaftliche Expeditionen. Mich interessieren gerade diese indirekten Beziehungen, die auf den ersten Blick unsichtbar bleiben. Die Rolle der Schweiz in der Kautschukproduktion zeigt sich etwa über Zirkulationen von Wissen und Technologien. In der Ausstellung nehme ich Alexandre Yersin als Beispiel, um diese Verstrickungen zu verdeutlichen.

RaBe Info: Alexandre Yersin war ein Schweizer Arzt und Bakteriologe, bekannt für die Entdeckung des Pestbakteriums. In Vietnam ist er bis heute eine gefeierte Figur. Was hat Sie an ihm besonders fasziniert?

Sung Tieu: Zunächst natürlich, dass er Schweizer war. In der Schweiz ist er kaum bekannt, in Vietnam dagegen angesehen. Das Pestbakterium entdeckte er zwar in Hongkong, doch er lebte und forschte lange in Vietnam, baute dort ein eigenes Labor auf. Seine Arbeit war eng mit kolonialen Strukturen verknüpft: Die Finanzierung kam aus Frankreich, und er führte Experimente zum Anbau von Kautschukpflanzen durch. Damit spielte er eine zentrale Rolle beim Aufbau der Plantagenwirtschaft. Dieses Zusammenspiel von medizinischem Wissen, kolonialer Ökonomie und wissenschaftlicher Autorität interessiert mich besonders.

«Mich interessiert, wie Körper sich immer wieder an abstrakte Normen anpassen mussten – in der Arbeitswelt, im Strafsystem oder auch in Migrationserfahrungen»
Sung Tieu Künstlerin

RaBe Info: In Ihrer Ausstellung beziehen Sie sich auch auf Bern, etwa auf die Massstäbe unter dem Zytglogge, die jahrhundertelang den Handel regulierten. Daraus haben Sie die Skulpturenreihe Corrective Measures entwickelt. Was erzählen diese Stangen über Disziplin und Macht?

Sung Tieu: Mich interessiert, wie Körper sich immer wieder an abstrakte Normen anpassen mussten – in der Arbeitswelt, im Strafsystem oder auch in Migrationserfahrungen. Die historischen Massstäbe in Bern stehen symbolisch für Ordnung und Standardisierung. Indem ich diese Masse mit meinem eigenen Körper nachzeichne, frage ich: Wer darf vermessen, und wer wird vermessen? Es geht um Disziplinierung, aber auch um eine Form von Selbstermächtigung.

RaBe Info: In Ihren Arbeiten spielen Konzepte von Wissen, Disziplin und Macht eine zentrale Rolle. Wie wichtig ist dabei Michel Foucault als Referenz?

Sung Tieu: Sehr wichtig. Seine Analysen zu Biopolitik, zu Disziplin und den unsichtbaren Mechanismen von Macht begleiten mich schon lange. Besonders die „Mikrophysik der Macht“, also diese feinen, unscheinbaren Formen der Regulierung über Institutionen, Architektur oder Sprache, prägt mein Denken. Viele meiner Arbeiten setzen genau dort an.

«Wer darf vermessen, und wer wird vermessen? Es geht um Disziplinierung, aber auch um eine Form von Selbstermächtigung.»
Sung Tieu Künstlerin

RaBe Info: Ein weiteres verbindendes Element der Ausstellung ist die Lichtinstallation in einem satten Gelb, das die Räume durchzieht. Welche Bedeutung hat dieser Farbton?

Sung Tieu: Ausgangspunkt ist die ehemalige Flagge Indochinas: ein sattes Gelb, überlagert vom französischen Rot-Weiss-Blau. Dieses Gelb wurde vom kaiserlichen Vietnam übernommen, wo es Stolz und Souveränität symbolisierte. Bis heute sind viele öffentliche Gebäude in Vietnam in diesem Ton gestrichen. Mich interessiert diese Ambivalenz. In der Kunsthalle nutze ich Wachstumslampen, die ein künstliches, monotones Gelb erzeugen – ähnlich wie Strassenbeleuchtung. Es nimmt den anderen Farben die Kraft, schafft eine Atmosphäre zwischen Kontrolle und Überwachung, verändert sogar die Wahrnehmung der eigenen Haut. Diese körperliche Erfahrung wollte ich in die Ausstellung einbringen.

Sung Tieu in der Kunsthalle Bern

Die Ausstellung Bleed von Sung Tieu ist bis zum 23. November in der Kunsthalle Bern zu sehen.



 

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