«Wir sprechen hier von Gummischrot auf Gesicht- oder Oberkörperhöhe»
Kritisches Fotografiekollektiv
Foto: Kritisches Fotografiekollektiv An der Palästinademo am Samstag kam es zu Auseinandersetzungen.

Viele Verletzte, mehrere hundert festgehaltene Demonstrant:innen, ein massiver Einsatz von Tränengas, Gummigeschossen und Wasserwerfern, dazu Sachbeschädigung und Brandstiftung: erste Einschätzungen zur Palästinademonstration.

Zwei Jahre Genozid, 100 Jahre Widerstand. Unter diesem Motto wurde am vergangenen Samstag zu einer Demonstration in Solidarität mit Palästina nach Bern mobilisiert. Diesem Aufruf sind Tausende gefolgt. Diverse Menschen demonstrierten in Bern, darunter auch ältere Menschen und Eltern mit Kindern. 

Die Demonstration startete am Bahnhof friedlich und zog dann Richtung Bundesplatz. Von da aus versuchten mehrere Demonstrationsteilnehmende, eine Sperre bei der Amthausgasse zu durchbrechen. Die Einsatzkräfte reagierten laut Polizeibericht mit Zwangsmitteln.

Die Polizei forderte laut Beobachtungen daraufhin Unbeteiligte und friedlich Demonstrierende dazu auf, sich über die Schauplatzgasse zu entfernen. Wenig später kesselte die Polizei in dieser Gasse einen Teil des Demonstrationszugs mit massivem Mitteleinsatz ein. Entlang der Umzugsroute sei es laut Polizeibericht zu massiven Sachbeschädigungen gekommen. 

«Nur weil eine Demonstration unbewilligt ist, ist sie noch nicht verboten»
Beat Gerber Mediensprecher Amnesty International Schweiz

Der Rest der Kundgebung löste sich laut der Polizei im Bereich des Bollwerks gegen 20.30 Uhr auf. Sie wurden einzeln abgeführt und in einer Sammelstelle im Neufeld kontrolliert. Die letzten Demonstrant:innen wurden erst um 4 Uhr morgens aus dem Kessel geholt. Insgesamt 536 Personen habe man kontrolliert, so die Polizei. Die kontrollierten Personen müssten nun teilweise mit einer Anzeige rechnen.

Beim Einsatz sind laut Bericht 18 Polizeikräfte verletzt worden. Auch auf Seiten der Demonstrierenden gab es Verletzte, konkrete Zahlen fehlen jedoch. Im Polizeibericht sind von zwei bekannten Verletzten die Rede. Der Citynotfall gab auf Anfrage bekannt, dass eine höhere einstellige Zahl an verletzten Demonstrationsteilnehmenden behandelt wurde. Der Notfall des erheblich grösseren Inselspitals machte dazu keine Aussage.

War die Stadt zu voreingenommen?

Dass es am Samstag brenzlig werden könnte, war absehbar. Die Demonstration war unbewilligt. Im Vorfeld hatte sich die Stadt bemüht, die Demonstration zu bewilligen. Bereits am 1. Oktober riefen die Behörden die Veranstalter:innen dazu auf, ein Bewilligungsgesuch einzureichen. Dieser Aufruf blieb jedoch erfolglos. Die Organisator:innen hätten zum Bedauern der Sicherheitsdirektion keinen Kontakt zu der Stadt aufgenommen, hiess es einen Tag vor der Demonstration.

Der Stadtbernische Sicherheitsdirektor Alec von Graffenried prognostizierte, dass es in der Innenstadt zu erheblichen Einschränkungen kommen werde. Die Stadt hatte von einer Teilnahme an der Demonstration explizit abgeraten. Auch die Polizei informierte bereits am letzten Donnerstag, dass sie für die Demonstration mit einem Grossaufgebot auffahren werde. Wie viele Polizist:innen am Samstag in Bern im Einsatz standen ist nicht bekannt: Man mache grundsätzlich keine Aussagen zum Dispositiv, so die Kantonspolizei auf Anfrage.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International betrachtet es als fragwürdig, dass die Stadt im Voraus von der Teilnahme abgeraten habe. «Nur weil eine Demonstration unbewilligt ist, ist sie noch nicht verboten. Die Stadt hat unserer Meinung nach hier eine falsche Einschätzung verbreitet», sagt Beat Gerber, Mediensprecher von Amnesty International Schweiz. Jede friedliche Demonstration sei durch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit geschützt, so Gerber weiter. Ferner gelte die Vermutung, dass eine Demonstration friedlich ablaufen kann, sie sollte also nicht im Voraus als gewalttätig verschrien werden.

«Ich würde einer solchen Gruppe niemals hinterherlaufen!»
Alec von Graffenried Sicherheitsdirektor Stadt Bern

Alec von Graffenried ist eher überrascht über das Ausmass der Proteste. Angesichts der Entwicklungen in Gaza hätte er einen anderen Ablauf erwartet, sagt der Stadtberner Sicherheitsdirektor. Eingetroffen sei nun der Worstcase. «Nachdem in Israel und Palästina eine grosse Erleichterung herrscht, indem erstmals ein Friedensschluss greifbar ist, hätte man auch damit rechnen können, dass sich das mässigend eingewirkt hätte auf die Demonstrationslust. Aber das war offensichtlich nicht der Fall.»

Dass friedliche Demonstrant:innen der teils gewalttätigen Demospitze nachgelaufen sind, ist für von Graffenried gänzlich unverständlich: «Ich würde einer solchen Gruppe niemals hinterherlaufen!». Beat Gerber von Amnesty International hat hingegen Verständnis für die Demonstrierenden.  Unter den 5'000 Teilnehmenden seien auch Kinder und ältere Personen gewesen – Menschen, die sich um das Leid in Gaza gesorgt hätten und ihrer Trauer Ausdruck geben wollten. «Dass sie jetzt verantwortlich gemacht werden für die Taten von gewalttätigen Randalierern und gewalttätigen Demonstranten ist unserer Meinung nach falsch. Es ist enttäuschend, dass von der Demo nur noch der Eindruck der Gewalt hängenbleibt.» Die Anliegen nach Gerechtigkeit für die Opfer in Palästina würden völlig vergessen gehen.

Von Graffenried würde rückblickend anders vorgehen

Aus der Politik wird nun Kritik an der Stadtregierung laut. Die FDP etwa fragt, wieso man nicht früher gehandelt habe, bevor die Lage eskaliert sei. Auch die Partei «Die Mitte» kritisiert, dass die Gewalt durch ein entschlosseneres Handeln des Gemeinderats und insbesondere der Sicherheitsdirektion hätte verhindert werden können. Alec von Graffenried würde rückblickend anders vorgehen. «Aber rückblickend weiss man auch, was man natürlich im Voraus noch nicht gewusst hatte», meint der Sicherheitsdirektor.

Er stelle sich zudem die Frage, wann man entschlossener hätte handeln müssen. «Man hätte die Demonstration im Keim ersticken und den Protestierenden verbieten können, sich zu versammeln.» An einem Samstagnachmittag gestalte sich das aber schwierig: Das würde bedeuten, dass alle Menschen in der Stadt sich nicht mehr versammeln dürfen, was mit einer grossen Einschränkung der persönlichen Freiheit einhergehen würde.

Die Verhältnismässigkeit steht in Frage

Kritik richtet sich nicht nur an die Adresse der Stadtregierung. Von der Kundgebung wird auch von massiver Polizeigewalt berichtet. Der Mitteleinsatz sei unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit sehr kritisch zu betrachten, fassen die Demokratischen Jurist:innen Bern (DJB) zusammen.

Alec von Graffenried relativiert: «Es ist allenfalls denkbar, dass die Polizei unter Notwehrgesichtspunkten gehandelt hat.» Auch die Notwehr müsse verhältnismässig erfolgen. Ob das der Fall gewesen sei, könne er jedoch nicht beurteilen, meint von Graffenried. Wie der Mitteleinsatz der Polizei einzuschätzen sei, gelte es nun zu überprüfen.

«Im Verlauf der Demonstration war es vielen Protestierenden nicht klar, was eigentlich die Ansage ist, wohin man sich bewegen soll»
Beat Gerber Mediensprecher Amnesty International Schweiz

Speziell kritisch sieht DJB den Einsatz von Gummigeschossen: Dieser sei teilweise ohne vorgängige Ankündigung geschehen, aus einer Distanz von nur wenigen Metern sowie über Hüft-, teilweise sogar klar ersichtlich auf Kopfhöhe. Mehrere Personen seien durch Gummigeschosse verletzt worden, zum Teil am Kopf oder im Gesicht. Unter den Verletzten haben sich laut DJB auch unbeteiligte Passant:innen befunden.

Amnesty International sammelt derzeit Videos, Fotos und Zeugenaussagen zum Polizeieinsatz und zu den Repressionsmassnahmen. Eine abschliessende Bewertung sei noch nicht möglich, sagt Beat Gerber. Die Videos zeigten aber zum Teil heftige Gewalt, die sich auch gegen friedliche Demonstrant:innen richtete. «Wir sprechen hier von Gummischrot auf Gesicht- oder Oberkörperhöhe», führt Beat Gerber aus. Amnesty International sammelt derzeit noch Informationen zu Verletzten auf beiden Seiten.

Protestierende und Unbeteiligte waren stundenlang eingekesselt

Die Kommunikation der Polizei sei zudem schwer verständlich gewesen, kritisiert Amnesty International.  «Im Verlauf der Demonstration war es vielen Protestierenden nicht klar, was eigentlich die Ansage ist, wohin man sich bewegen soll.» So seien einige in der Schauplatzgasse festgesteckt, wo sie gar nicht hätten durchgehen sollen. Da habe die Polizei viele friedliche Demonstrant:innen und unbeteiligte Passant:innen eingekesselt, so DJB. Diese hätten bis zu 12 Stunden bei zunehmender Kälte ausharren müssen.

Sicherheitsdirektor Alec von Graffenried bezweifelt, dass Unbeteiligte in den Polizeikessel geraten sind: «Es gab einzelne Personen, die in der Schauplatzgasse in einem Geschäft, Büro oder Hotel waren und gerade rein oder raus wollten.» In dieser Situation sei es schlauer, ist der Sicherheitsdirektor der Meinung, noch einen Moment drinnen zu bleiben und den Demonstrationszug vorüberziehen zu lassen.

«Jetzt wird man sehen müssen, ob man der einen oder anderen der festgenommenen Personen diese Straftaten zuordnen kann.»
Alec von Graffenried Sicherheitsdirektor Stadt Bern

Auch die Vorfälle in der Schauplatzgasse müsse jetzt aufgearbeitet werden, so von Graffenried: «Die Polizei ist gehalten, sich an die Grundsätze der Verhältnismässigkeit zu halten. Das betrifft auch den Einsatz des Wasserwerfers sowie das gesamte Handeln der Polizei.»

Die Gewalteskalation werde Konsequenzen mit sich tragen, so von Graffenried. Man könne den Kontrollierten die Straftaten zwar noch nicht nachweisen, aber man wisse, dass Straftaten vorgekommen sind. «Jetzt wird man sehen müssen, ob man der einen oder anderen der festgenommenen Personen diese Straftaten zuordnen kann.» Die Versammlungs- und Meinungsfreiheit wolle man aber in der Stadt Bern weiterhin hochhalten, so Alec von Graffenried. Genauere Nachforschungen will auch Amnesty International anstellen: Momentan analysiert die Menschenrechtsorganisation noch Dokumentationsmaterial vom vergangenen Samstag.

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