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19. Juni 2025
Rasen und Rohbau – wie Holligen sich wandelt
David Fürst
Foto: David Fürst Früher stand neben dem Trainingsplatz des SC Holligen eine Kehrrichtsverbrennungsanlage, heute befinden sich hier genossenschaftliche Wohnungen.

Der Fussballverein SC Holligen 94 trainiert, spielt und lebt seit drei Jahrzehnten in Holligen. Rund um den Fussballplatz ist aber viel los: Direkt neben dem Fussballplatz entsteht eine ganz neue Siedlung mit mehreren hundert Wohnungen. Wie wirkt sich das auf das Leben auf dem Rasen aus?

«Ich will ja nicht den starken Begriff Gentrifizierung benutzen – aber es riecht ein bisschen danach», meint Nojan am Rande des Fussballtrainings. Es ist ein lauer Dienstagabend Ende April. Seit acht Jahren spielt Nojan in der Herrenmannschaft der vierten Liga beim SC Holligen. Das Quartier kennt er gut, er ist hier aufgewachsen. Etwas argwöhnisch späht er in Richtung der neu gebauten Siedlung direkt neben dem Fussballplatz. «Meiner Meinung nach gibt es eine Trennung», so Nojan. Eine Trennung zwischen gutverdienenden, einheimischen Personen in der neuen Siedlung und dem Rest des Quartiers: Studenten, migrierte Familien, Wenigverdienende.

«Für uns ist es das Wichtigste, dass man hierherkommen kann und sich wohlfühlt – egal, woher man kommt, egal, welches Geschlecht man hat.»
Roberto Campagnelli Vereinspräsident SC Holligen 94

Roberto Campagnelli ist Präsident des Vereins. Fussball spielt Roberto Campagnelli selbst nicht mehr, trainiert aber die Frauen. Er steckt sich eine Zigarette an und zeigt stolz den neuen Song seines Vereins. «Mir sy vo Bärn, u zäme symer starch» scheppert es aus den Handylautsprechern. Seit über 20 Jahren ist Roberto Campagnelli im Vorstand des Vereins. Der Verein, das sei seine zweite Familie. «Für uns ist es das Wichtigste, dass man hierherkommen kann und sich wohlfühlt – egal, woher man kommt, egal, welches Geschlecht man hat.»

Beim SC Holligen spielen Menschen aus über dreissig Nationen. In diesem Fussballclub wird nicht nur gemeinsam trainiert, es wird auch integriert. Dafür hat der Verein 2012 den Integrationspreis der Stadt Bern erhalten. Im Verein kommen verschiedene soziale Schichten zusammen, betont Deborah Kagerbauer, die für den Vorstand Sekretariatsaufgaben übernimmt: «Je weiter man in Bern gegen Westen geht, desto mehr werden andere soziale Schichten sichtbar.»

La Tribuna: Die Seele des Vereins

Direkt neben dem Fussballplatz lockt das Restaurant La Tribuna, laut Roberto Campagnelli die Seele des Vereins. La Tribuna ist ein wichtiger Treffpunkt der spanischsprachigen Community Berns. Heute wird im La Tribuna ein Match übertragen. Der FC Barcelona spielt gegen Real Madrid, die sogenannte Copa del Rey. Das Restaurant ist gut gefüllt. Dem Jubel nach sind die Fans von Real Madrid in Überzahl. Einer von ihnen ist Daniel Rif, Präsident des Berner Real-Madrid-Fanclubs. «Wenn du ins La Tribuna kommst, fühlst du dich wie in Spanien: Es ist sehr laut, es riecht nach Frittiertem, das Bier ist günstig, bei Toren wird gejubelt.»

«Wir sind Freunde, eine richtige Familie!»
Antonio Calvo Wirt des Restaurants La Tribuna

Ramon, ein älterer Herr aus Spanien, erklärt, dass er nicht wegen des Spiels hier sei. Seine freien Tage verbringe er gerne hier, um ein bisschen Spanisch zu sprechen, sich auszutauschen, zusammenzukommen. Solche geselligen Abende gebe es viele im La Tribuna, erzählt Antonio, Besitzer des Restaurants. Es sei auch ein Treffpunkt für den SC Holligen. «Wir sind Freunde, eine richtige Familie!»

Lärm und Fritteusengeruch

Diese Abende haben in den letzten Jahren ab und an für Probleme gesorgt. Der Lärm und der Fritteusengeruch sorgen für Unmut bei der neuen Nachbarschaft. Rund um den Fussballplatz hat sich nämlich viel verändert. Direkt neben dem Sportplatz stand früher eine Kehrichtverbrennungsanlage, die die Stadt abreissen liess. Sechs neue Wohnblöcke sollen auf dem Brachland entstehen, fünf davon sind inzwischen gebaut. Die Mehrheit der Gebäude ist genossenschaftlich und gemeinnützig organisiert. Fast sechshundert Personen sind in den letzten Jahren hierhergezogen. Von der Kehrichtverbrennungsanlage zum Wohnquartier – das Quartier hat für Matthias, der seit 22 Jahren im Verein spielt, ein neues Gesicht: «Früher gab es sauren Regen wegen der Kehrichtverbrennungsanlage. Jetzt steht da eine Siedlung.»

Ein Quartier im Wandel

Eine Siedlungsbewohnerin erster Stunde ist Madlen Kobi. Sie lebt mit ihrem Sohn im Gebäude Warmbächli, der ersten von sechs Überbauungen. «Ich habe mich von Anfang an gefragt, was wohl passiert, wenn Mittelschichtler oder Akademikerinnen in dieses Arbeiterquartier ziehen», so Kobi.

Markus Flück wohnt nicht in der Siedlung Holliger, sondern an der Güterstrasse gleich dahinter. Der Abriss der Kehrichtverbrennungsanlage, die Brache, die neue Siedlung: Die Aufwertung in Holligen hat Markus Flück hautnah miterlebt. «Im ganzen Quartier wird saniert – das hat zugenommen.» Vor rund zwei Jahren sorgte eine Kündigungswelle an der Bahnstrasse für Aufsehen: Über 100 Mieterinnen und Mieter mussten ihre Wohnungen verlassen. Die Gebäude werden seither umfassend saniert und danach zu deutlich höheren Preisen neu vermietet. Eigentümerin der Liegenschaften ist die städtische Pensionskasse. Zudem entstehe überall im Quartier neues Gewerbe, auch daran lasse sich die Aufwertung bemessen, so Flück. Heute gebe es in Holligen etwa mehr Cafés als früher. «Holligen ist mitten in dieser Veränderungsphase, in einer Selbstfindungsphase, was Holligen überhaupt ist.»

Nirgendwo sonst in der Stadt Bern ist die Wohnbevölkerung in den letzten Jahren so stark gestiegen wie in Holligen. Mittlerweile leben rund 8500 Personen im Quartier. Fast 360 Wohnungen sind im vorletzten Jahr dazugekommen. Der Ausländer*innen-Anteil liegt bei 30 Prozent, deutlich über dem Stadtberner Durchschnitt. Unter dem Durchschnitt liegt hingegen das Medianeinkommen.

Jeanette Beck ist Stadtplanerin der Stadt Bern und kennt das Quartier gut. In die Planung der Siedlung Holliger war sie von Anfang an involviert. «Es war spannend, dass man so zentral in der Nähe des Bahnhofs dieses Areal hat, das man umnutzen kann, und dann noch mehrheitlich für Wohnnutzung.» Gibt es jetzt einen Sanierungsdruck im Umfeld der Neubausiedlung? Beck winkt ab. In Holligen lasse sich kein klassischer Verdrängungseffekt beobachten. Es sei zwar ein Aufwertungsprozess in Gange, «aber Wohnen wird nicht verdrängt». Es sei vielmehr so, dass ganz viel neues Wohnen in das Quartier hineinkommt. Es sei ein wichtiger Entscheid gewesen, dass in der Siedlung Holliger genossenschaftlich genutzter Wohnraum entstehe, so Beck. «Das ist ein riesiger Impact, dass hier keine Luxuswohnungen entstehen.»

Brückenbauer und Mädchenfussball

Auf dem Sportplatz Steigerhubel spielt Ahmed Pässe hin und her. Es habe sich viel verändert in den letzten Jahren, betont er am Rande des Spielfelds. In den Fensterscheiben der Neubausiedlung Holliger reflektieren sich die letzten Sonnenstrahlen. Früher habe man alle gekannt im Quartier. Das sei nun anders. «Heute hat man gar keinen Überblick mehr. Mit der Baustelle hat sich das komplette Quartier auf den Kopf gestellt.» Die neu Zugezogenen würden aber unter sich bleiben. Ahmed findet das schade, er wünscht sich mehr Durchmischung. «Die Neuen haben sich noch nicht integriert.» Der Verein und die neue Siedlung: Richtig angefreundet habe man sich noch nicht. Einen offenen Konflikt gebe es nicht, betont Nojan. Aber eine Verbindung eben auch nicht.

«Es wird sich bestimmt zu einer harmonischen Nachbarschaft entwickeln. Ich sehe grosses Potential. Es braucht einfach noch ein bisschen Zei»
Marian Trainer beim SC Holligen 94

Es gibt auch Menschen, die Brücken bauen zwischen dem Neuen und dem Alten. Ein solcher Brückenbauer ist Marian, Assistenztrainer bei der Mannschaft. Er wohnt in der Siedlung und beobachtet erste Annäherungsversuche zwischen den beiden Welten. «Wenn Matchs sind, stehen einige auf den Balkonen, fiebern mit, jubeln uns zu.» Sein Ziel: Die Nachbarschaft und den SC Holligen näherbringen. «Es wird sich bestimmt zu einer harmonischen Nachbarschaft entwickeln. Ich sehe grosses Potential. Es braucht einfach noch ein bisschen Zeit.»

Der Verein und das Quartier müssten etwas Gemeinsames werden, das betont auch Vereinspräsident Roberto Campagnelli. «Wir haben die eine oder andere Reklamation gekriegt, was ja auch normal ist, wenn es spät abends laut ist. Aber wir werden uns schon finden.» Guten Mutes ist auch Deborah Kagerbauer. Für sie gibt es bereits viel Vermischung zwischen dem Quartier und dem Verein. «Wir konnten sogar neue Trainer aus dem Quartier gewinnen.»

Einer dieser neuen Trainer ist Yaser. Er wohnt seit eineinhalb Jahren im Holliger. Yaser trainiert die neue Mädchenmannschaft beim SC Holligen: eine bunte Mischung aus fünf- bis elfjährigen Mädchen. Er sitzt nach seinem Training etwas müde auf der Bank und schaut der Herrenmannschaft beim Training zu. Das Mädchenteam hat enorm viel Zulauf. Vor allem Kinder aus der neuen Siedlung kommen diese Saison rege dazu. «Jede Woche haben wir drei, vier Mädchen, die vorbeischauen.» Durch die Fussballeuropameisterschaft der Frauen werde der Zulauf bestimmt weiter steigen, so Yaser. Symbiotisch ist die Beziehung noch nicht. Dass jetzt aber so viele Kinder mitspielen, stimme ihn positiv. «Die Brücken gibt es, sie werden intensiver und breiter.»

Dieser Beitrag ist eine Zusammenarbeit von RaBe Info und Journal B. Diese Recherche wurde mit Unterstützung von JournaFONDS realisiert.



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