Von
am
26. September 2025
„Avant il n’y avait rien“: Spurensuche einer verlorenen Freundschaft
Der Film ‚Avant il n’y avait rien‘ erzählt die Geschichte einer verlorenen Freundschaft zwischen Yvann Yagchi, dessen Familie eng mit der Nakba verwoben ist, und seinem Kindheitsfreund, der in einer jüdischen Siedlung im Westjordanland lebt

Der Film Avant il n’y avait rien erzählt von einer zerbrochenen Freundschaft. Auf der einen Seite steht der Regisseur Yvann Yagchi, mit schweizerisch-irakisch-palästinensischer Identität und einer Familiengeschichte, die eng mit der Nakba verbunden ist. Auf der anderen Seite sein Kindheitsfreund: adoptiert von einer liberalen jüdischen Familie, wohlbehütet in der Schweiz aufgewachsen – und später in eine jüdische Siedlung im Westjordanland gezogen. Am Anfang, so Yagchi, stand der Versuch, diesen Freund zu verstehen: «Er ist nicht in israelisch-neokoloniale Ideologien hineingeboren oder damit aufgewachsen. Ich wollte nachvollziehen, wie er im Laufe seines Lebens zu solchen Entscheidungen gelangen konnte.»

Yagchi besucht ihn in einer abgeschotteten Siedlung, mitten in palästinensischem Gebiet. Ein Ort, aus dem Boden gestampft; auf Land, das laut dem Narrativ der Siedler ihnen zusteht. Schon der Filmtitel weist auf den zentralen Konflikt hin: Avant il n’y avait rien – «Vorher war da nichts». Doch das Land war bewohnt. Der Film widerspricht dieser Erzählung: Yagchi reiht die Entstehung der Siedlungskolonie in die Geschichte des palästinensischen Landverlusts seit der Staatsgründung Israels ein. «Es ging darum zu zeigen, dass es schon vor 1948 eine lebendige palästinensische Gesellschaft gab – als Gegenerzählung zu dem Narrativ, dort habe zuvor nichts existiert. In Palästina gab es eine pulsierende Kultur: Journalist:innen, Schriftsteller:innen, intellektuelle Bewegungen.»

Gedreht wurde lange vor dem Kriegsausbruch in Gaza. Während der Arbeit zieht sich Yagchis Kindheitsfreund zurück: Das Projekt sei zu aufgeladen, zu politisch, zu kontrovers. Der Regisseur verliert seinen Protagonisten – und macht trotzdem weiter. Er richtet den Fokus auf Menschen, die direkt von Siedlergewalt betroffen sind. Etwa auf einen 40-jährigen Palästinenser, der von Siedlern verprügelt wurde und seither nicht mehr arbeiten kann. Mit bedrückender Klarheit sagt er voraus, dass noch grösseres Leid bevorstehe. Heute, erzählt Yagchi, wird genau dieses Dorf zunehmend und immer gewalttätiger von Siedlern konfrontiert. «Die Palästinenser:innen im Westjordanland haben diese Entwicklung vorausgesehen, weil sie sie jeden Tag erleben. Sie wussten, was kommen würde – und das ist das Traurige. In den letzten Jahren wollte niemand zuhören. So sind wir in den heutigen Genozid geraten.»

Für Yagchi war die Arbeit am Film auch eine persönliche Spurensuche. Er recherchierte seine eigene Familiengeschichte, die Vertreibung während der Nakba, die Erlebnisse seines Grossvaters Khalil, der wie ein Geist durch den Film schwebt. «Zwischen Wissen und Fühlen besteht ein Unterschied. Vor Ort zu sehen, was passiert, verändert alles. Eine solche Gewalt mitzuerleben – selbst wenn man sie nicht physisch erfährt – verändert alles.» So zeigt Avant il n’y avait rien zwei Ebenen zugleich: die historische Vertreibung im Zuge der Staatsgründung Israels und die Kontinuität von Gewalt durch den Siedlungsbau im Westjordanland und in Ostjerusalem. Entstanden vor 2023, macht der Film klar: Die Eskalation der Gegenwart ist Teil eines langen Kontinuums.

Yagchi richtet die Botschaft nicht mehr an den verlorenen Freund, sondern an die Zuschauer:innen: «Wir müssen aufwachen. Wir sind diejenigen, die etwas verändern können – angesichts der Untätigkeit unserer Regierung und der Schweiz, die gerade erneut die Anerkennung des palästinensischen Staates verweigert hat.»

Der Film im Kino

Der Film Avant il n y avait rien feiert am Sonntag um 11 Uhr morgens im Kino Rex in Bern Premiere, in Anwesenheit des Regisseurs.

Teilen
Rabe
Radio Bern: RaBe Sulgenrain 28, 3007 Bern,
rabe@rabe.ch
Studio:
031 330 99 99
,
studio@rabe.ch