Karin Jenni: Das waren die Sans-Papiers-Bewegungen. 2001 ist diese Bewegung in der Schweiz angekommen. In Frankreich gab es bereits eine grosse Sans-Papiers-Bewegung. Personen ohne Aufenthaltsbewilligung haben auf sich aufmerksam gemacht, auf ihre prekäre Situation und auf ihre fehlenden Rechte. Die Bewegung war stark, hat politisch aber nicht viel erreicht. Eine kollektive Regularisierung gelang nicht. Es wurde ein kleines Türchen geöffnet, die Härtefallbewilligung. Es war klar, dass das nicht reicht. Die Landeskirchen entschieden daraufhin, eine Beratungsstelle aufzubauen. Es fehlte etwas. Es brauchte eine Stelle, wo sich Sans Papiers informieren können und die sich für ihre Rechte einsetzt.
Es gibt unterschiedliche Situationen. Einige haben ein Asylgesuch gestellt, ein negatives Ergebnis erhalten und entschieden, hier zu bleiben, weil sie nicht zurückgehen wollen oder können. Dann gibt es viele Personen aus sogenannten Drittstaaten, also nicht aus Europa. Sie können sich nicht über das Personenfreizügigkeitsabkommen regeln. Es gibt keine reguläre Möglichkeit. Sie leben trotzdem hier, arbeiten hier, haben ihren Lebensmittelpunkt. Über Jahre. Die Kinder gehen zur Schule. Sie verdienen ihr Existenzminimum, haben aber keine Chance auf eine Bewilligung. Dann gibt es Personen, die hatten einmal eine Bewilligung, waren verheiratet, haben sich aber nach Gesetz zu früh getrennt und hatten keine Möglichkeit, eine eigenständige Bewilligung zu erhalten, obwohl ihr Lebensmittelpunkt hier ist.
Die Anliegen sind breit. Die Frage nach einer Regularisierung ist immer präsent. Gibt es eine Möglichkeit für eine Bewilligung? Ja, nein, wann, wie? Dann viele andere Fragen: das Recht auf Ehe und Familie. Kann ich heiraten? Ich habe zum Beispiel einen Schweizer Partner. Wie ist der Weg? Familien fragen nach Einschulung, nach dem Recht auf Bildung. Oft geht es um Zugang zu Gesundheit, Krankenkasse oder einfach eine Ärztin, einen Arzt aufsuchen. Fragen zu günstiger Verpflegung, Unterkunft und mehr. Grundsätzlich geht es um die Humanisierung des Alltags.
Die Beratungsstelle hat viel Know-how aufgebaut. Es gibt keine vergleichbare Stelle. Es gibt Stellen im Asylbereich, aber spezifisch für Sans Papiers nicht. Dieses Wissen ist wichtig. Zudem hat die Stelle Vertrauen in den Communities aufgebaut. Man kann kommen, alles offenlegen, und es wird vertraulich behandelt. Das muss sich zuerst etablieren. Gleichzeitig gibt es viele Personen, die sich nicht trauen zu kommen. Die Angst, aufzufliegen, ist gross.
Es kommt darauf an, ob man in der Stadt Bern oder im Kanton lebt. Es macht einen Unterschied, welche Zugänge möglich sind. Der Zugang zur Bildung konnte politisch erarbeitet werden und wird breit anerkannt. In kleinen Gemeinden ist das Risiko, aufzufliegen, höher. In der Stadt wird das Recht auf Bildung stark gewichtet und funktioniert. Über die Jahre konnten durch die Beratungsstelle und andere Stellen viele Zugänge eröffnet werden. Gleichzeitig gibt es immer wieder Verschärfungen im Ausländer- und Integrationsgesetz und im Asylgesetz. Das erschwert vieles.
Schön ist, wenn man jemanden bei einer Regularisierung unterstützen kann und eine Person oder Familie tatsächlich regularisiert wird. Das sind berührende Momente, weil eine Perspektive entsteht und sich viel verändert. Berührend sind auch Anlässe wie der Solilauf, wo viele zusammenkommen, rennen und Solidarität zeigen, oder das Jubiläum. Wir haben ein Geschenk aus der mongolischen Community erhalten. Solche Momente sind sehr berührend.
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