Unsere Körper sind nicht separat von dem, was uns umgibt. Das erfährt Flügchen im Langgedicht «Die Spinne» von Eva Maria Leuenberger. Flügchen liegt im Bett, in einem kahlen Raum, mit nur sich selbst und einer Spinne an der Decke. Obschon isoliert, ist Flügchen erschlagen von der Allgegemwärtigkeit der Klimakrise.
es ist so:
du siehst nur noch Feuer,
überall.
wie immer.
wie erwartet.
bilder rieseln
durch die risse in der wand;
sand
oder asche.
stille,
und staub.
Das Feuer, überall: Die Zeilen erwecken Erinnerungen an Bilder der vergangenen Wochen, an die Brände in Kalifornien. Eva Maria Leuenberger beschreibt in «Die Spinne» keine dystopische Zukunft, sondern die vielschichtige Gegenwart. «Die Kimakrise ist nicht spürbar im Alltag. Man kann irgendwie an einem Ort sitzen, es ist ein wunderschöner Tag. Ich habe versucht, dieses Aber spürbar zu machen. Dafür braucht es diese Gegenwart.»
Es fehle an Kunst, die eben diese Gegenwärtigkeit der Klimakrise spürbar mache und körperlich verhandle, so Leuenberger. Der Körper steht im Gedicht «Die Spinne» immer im Zentrum und ist dabei nicht getrennt dem, was um ihn herum passiert. «Der Körper ist ein natürliches, ein tierisches Element. Der Körper hat nicht eine klare Grenze zu der Umwelt. Die Haut ist nicht eine Mauer, sondern ein durchlässiges Portal. Wir sind in der banalen Realität unseres Alltags nicht separat von unserer Umwelt.»
Zentral in Eva Maria Leuenbergers Gedicht ist das Moment der Gewöhnung an die Umstände. Doch in dieser Gewöhnung liege Ohnmacht und Scham: «Scham darüber, dass man sich an all das gewöhnt, dass man es eigentlich weiß, aber sich daran gewöhnt. Das ist für mich nicht Resignation, sondern es ist Trauer.»
Der Auseinandersetzung mit dieser Trauer folgt die Dramaturgie des Gedichts: Flügchen ist zu Beginn des Gedichts mit sich selbst beschäftigt; mit dem eigenen Körper, den eigenen kreisenden Gedanken, dem eigenen Scham, der eigenen Ohnmacht. Im Verlaufe der Erzählung durchlebt Flügchen eine Auflösung dieses Ichs. Flügchen nimmt sich der immensen Trauer an, tritt in Kontakt mit dem Aussen, trifft auf die Spinne, verästelt sich mit dem Aussen, dem Wald, den Bäumen, dem Moos. «Es ist eine Bewegung von dem sehr stark eingegrenzten Individuum zu einer großen Verästelung», erklärt Leuenbergerger. In dieser grossen Bewegung, weg vom isolierten Individuum, hin zur Verästelung, sieht Eva Maria Leuenberger den Imperativ unserer Zeit. Das klingt esoterisch, ist es aber nicht. Denn, diese Verästelung bedarf keinem Transzendenten, keinem Gott, keinem Jenseitigen. Diese Verästelung verlangt in erster Linie einer Präsenz mit allem Lebendigen.
Drei Jahre lang arbeitete Leuenberger am Gedicht. Angefangen habe der Schreibprozess mit einer gewissen Verzweiflung, so Leuenberger. Verzweiflung über die Situation der Welt, aber auch die Verzweiflung darüber, wie man sich als schreibende Person in der Welt verorten könne: Wie leben, wie genesen, wie schaffen, wie schreiben in der Klimakrise. In diese ungeklärten Fragen hinein hat Leuenberger über Jahre hineingeschrieben. Aus diesem Raum sei der schlussendliche Text entstanden. Innerhalt kurzer Zeit habe Leuenberger diesen schliesslich niedergeschrieben.
Der entstandene Text räkelt sich über neunzig Seiten. Auf jeder Seite wenige reduzierte Zeilen, in konsequenter Kleinschreibung, jedes Wort mit Bedacht gewählt. Das Gedicht «Die Spinne» ist kein lauter erzürnter Weckruf, sondern ein bedachter, aber radikaler Appell. Der Text reduziert keine Komplexität, sondern lädt ein, sich die Vielschichtigkeit und Verwobenheit der Gegenwart einzuverleiben und zu verdauen.
Das Langgedicht «Die Spinne» von Eva Maria Leuenberger ist m droschl Verlag erschienen. Eva Maria Leuenberger wurde dafür vor zwei Wochen mit dem Schweizer Literaturpreis 2025 ausgezeichnet.