Das mexikanische Infoportal Infobae wurde gestern mit folgender Schlagzeile betitelt: «Eine junge Frau wurde im Hotel Jacarandas tot aufgefunden; die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen eines möglichen Feminizids.» Oder ebenfalls gestern, die überreglionale Zeitung Milenio: «Ermordete Frau in einem Kleinbus in Iztapalapa, Mexiko-Stadt.»
Durchschnittlich zehn Frauen sterben in Mexiko Tag für Tag durch ihren Partner, Expartner oder Familienangehörigen. Circa gleich viele überleben einen solchen Mordversuch. Eine von diesen Überlebenden ist Jeysol. Am 30. Januar 2015 wollte sie sich von ihrem damaligen Partner trennen, woraufhin er sie angriff. Siebenunddreissig mal stach er mit einem Messer auf sie ein – an den Armen, am Hals, an den Beinen. Wie durch ein Wunder überlebte Jeysol und verbrachte zwei Monate in der Intensivstation. Seit dem versuchten Feminizid lebt Jeysol in Angst: Sie fürchtet sich vor einer erneuten Attacke ihres Expartners. Sie kann Ihrem Job nicht mehr ausführen und der Krankenhausaufenthalt hat sie viel Geld gekostet, deswegen steht Jeysol vor dem finanziellen Ruin. Sechs Jahre lang kämpfte Jeysol dafür, dass ihr Expartner wegen versuchtem Feminizid angeklagt wird – erfolglos. Es kam zwar zur Anklage, doch untersucht wurde nicht etwa wegen versuchtem Feminizid, sondern wegen Körperverletzung. Der Aggressor ist weiterhin auf freiem Fuss.
Das ist keine Seltenheit: Mexiko ist zwar eines der wenigen Länder, in denen der Feminizid einen eigenen Straftatbestand darstellt. Bei Verdacht auf einen versuchten Feminizid sollen Täter präventiv verhaftet werden, damit Betroffene vor einem weiteren Gewaltübergriff geschützt werden. Doch es scheitert bei der Umsetzung: Versuchte Feminizide bleiben oft unter dem Radar der Behörden, sie werden als Fälle von häuslicher Gewalt betrachtet. Täter werden freigesprochen, versuchte Feminizide bleiben straffrei.
Genau solche Fälle dokumentiert der Film «Sobrevivientes Olividadas por la Justicia». Im Dokumentarfilm werden vier Überlebende portraitiert, eine von ihnen ist Jeysol. Die vier Protagonistinnen erfuhren massive Gewalt, fürchten um ihr Leben, doch der Staat reagierte nicht. Produziert wurde der Film von der Investigativjournalistin Gloria Piña. Seit Jahen recherchiert sie über geschlechterspezifische Gewalt in Mexiko, redet mit Betroffenen, kritisiert Behörden, sensibilisiert die Öffentlichkeit. Für ihren Dokumentarfilm hat sie nun den Breach/Valdez-Preis gewonnen, ein Preis für Journalismus und Menschenrechte in Mexiko, benannt nach den ermordeten Journalisten Javier Valdez und Miroslava Breach. Aus diesem Anlass reiste Gloria Piña in den letzten Wochen durch Europa, zeigte ihren Film in der Schweiz und in Frankreich. Für Gloria Piña ist der Kampf gegen geschlechterspezifische Gewalt damit aber noch lange nicht zu Ende: In patriarchalen Gesellschaften werde Gewalt an Frauen immernoch als normal angesehen – und das nicht nur in Mexiko, sondern auch in der Schweiz, so die Journalistin.
Im Beitrag sind Ausschnitte aus einem Interview mit Gloria Piña gehört, das vollständige Gespräch wird in der Sendung «Radio Activos» am 21. Juni, um 19 Uhr ausgestrahlt. Bist du von geschlechterspezifischer Gewalt betroffen oder suchst Hilfe für Menschen in deinem Umfeld? Hier findest du eine Übersicht an Unterstützungsangeboten.