Am 16. April 2017 stimmt die Türkei über ihre politische Zukunft ab. Wird das Land bald vom Alleinherrscher Recep Tayyip Erdogan regiert oder bleibt die demokratische Gewaltentrennung erhalten? Bei der Abstimmung über eine Verfassungsänderung beschliesst die türkische Stimmbevölkerung, ob die Türkei von einer parlamentarischen Demokratie zu einer präsidialen Republik wird. Bei einem JA könnte der Präsident dann leichter Gesetzesdekrete erlassen, das Parlament auflösen und seine MinisterInnen – ohne Parlamentsbeschluss – bestimmen. Das Amt des Ministerpräsidenten würde abgeschafft. Kritische Stimmen befürchten, die Türkei würde dann defacto zur Diktatur.
Wie konnte es soweit kommen? Das RaBe-Info schaut auf eine mehrjährige Berichterstattung über die Türkei zurück:
Demokratisierung nach der Machtübernahme Erdogans (2002-2012)
2002 gewann die konservativ-religiöse Partei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) die Parlamentswahlen. Der spätere Präsident Abdullah Gül (nicht zu verwechseln mit dem Islamisten Fethullah Gülen) wurde vorerst Ministerpräsident. 2003 übernahm Erdogan dieses Amt und blieb bis zu seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 2014 Ministerpräsident. Erdogan verfolgte zuerst eine Politik der Demokratisierung, verbesserte die Menschenrechtslage und machte – wenigstens vordergründig – einen Schritt auf die kurdische Bevölkerung zu. Der Konflikt zwischen der türkischen Armee und der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK wurde langsam eingedämmt. 2013 kam es sogar zum Waffenstillstand. Auch auf die ArmenierInnen ging Erdogan einen Schritt zu: Für den Völkermord an der armenischen Bevölkerung von 1915 entschuldigte er sich zwar nie, aber er begrüsste die Aufarbeitung der Geschichte.
Die Türkei erlebte einen Wirtschaftsaufschwung. Doch schon bei den Kommunalwahlen 2009 schien Erdogan diese Politik der Demokratisierung über den Haufen zu werfen – wie ein Bericht von RaBe über die Situation der oppositionellen kurdischen Partei DTP zeigt:
Trotz Wahlerfolgen wurde die DTP kurz nach den Wahlen verboten, einzelne Mitglieder mit einem Politikverbot belegt und es kam zu gewaltsamen Übergriffen von türkischen NationalistInnen auf DTP-Veranstaltungen. Einige DTP-Mitglieder schlossen sich später der BDP an, aus der später die HDP hervor ging.
Auch bei den Parlamentswahlen vom 12. Juni 2011 waren die Oppositionskräfte erfolgreich, obwohl Erdogans Regierungspartei, die AKP, einmal mehr gewann. Allerdings gewann die AKP nur etwa die Hälfte aller Stimmen. Erdogan fehlte die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, um die Verfassung nach seinem Willen zu verändern. Die kurdische BDP mit vielen unabhängigen Kandidierenden und die säkuläre sozialdemokratische CHP konnten zulegen. Die Freude beim kurdischen Polit-Aktivisten Ridvan Derin aus Sanliurfa in Südanatolien war gross. RaBe sprach mit ihm über den Wahlsonntag und die Hoffnungen der kurdischen Bevölkerung:
Die Hoffnungen von Ridvan Derin, dass die Anliegen der kurdischen Bevölkerung ernster genommen würden, verflüchtigten sich bald. Immer deutlicher wurde, dass sich Erdogan von seiner demokratischen Politik abzuwenden begann. Nicht nur für die kurdische Opposition wurde die Lage in der Türkei immer ungemütlicher, sondern auch für Linke. 2011 wurden zehn Mitglieder von – eigentlich legalen – sozialistischen Organisationen in Istanbul vor Gericht gestellt. Über diesen ziemlich undurchsichtigen Mammutprozess sprach RaBe mit einem Sympathisanten der SozialistInnen:
Auch die Situation der oppositionellen Medien veränderte sich. In einer grossangelegten Aktion wurden über 46 Medienschaffende verhaftet. 35 davon wurden angeklagt. Gegen sie begann Ende 2012 ein Prozess. RaBe sprach mit Antonia von der Behrens, die als Anwältin einen der Angeklagten vor Gericht vertrat. Sie erzählte, wie der türkische Staat aus Medienschaffenden „Terroristen“ machte:
Innerhalb der Türkei wurde die Kritik am immer autoritärer werdenden Politstil von Erdogan immer lauter.
Die Gezi-Park-Proteste und Skandale (2013-2014)
Am 28. Mai 2013 begannen in Istanbul die sogenannten Gezi-Park-Proteste. Eine Protestwelle gegen Erdogan begann sich über die ganze Türkei auszubreiten. Der Auslöser war der Widerstand gegen ein Bauprojekt der Regierung im Gezi-Park in Istanbul. In Wirklichkeit war es ein Protest der Zivilbevölkerung gegen einen Staatschef, der sich immer mehr wie ein Diktator aufzuführen begann. Der grüne Berner Grossrat Hasim Sancar – mit kurdisch-türkischen Wurzeln – besuchte Istanbul und erklärte RaBe, wer die Leute hinter der Protestbewegung waren:
Erdogan reagierte auf die Proteste mit Gewalt. Er liess die Situation gut drei Wochen nach Protestbeginn eskalieren – Hasim Sancar analysierte die Lage für RaBe:
Die Protestbewegung hatte zwar erreicht, dass der umstrittene Supermarkt auf dem Gelände des Gezi-Parks nicht gebaut wurde. Erdogans Macht wurde jedoch nicht ernsthaft erschüttert. Die Protestbewegung blieb vorerst im Untergrund am Leben. Der Münchner Musikjournalist Georg Milz besuchte zahlreiche engagierte Musikschaffende und erzählte RaBe von seinen Beobachtungen:
Immer mehr Oppositionelle landeten im Gefängnis – darunter auch AnwältInnen. Erdogans Justizapparat begann Ende 2013 einen Prozess, bei der die Berner Juristin Annina Mulis als Beobachterin teilnahm:
Ende 2013 drohte Erdogan erneut Ungemach. Ein Korruptionsskandal erschütterte die AKP-Regierung. Auch da konnte sich Erdogan herauswinden. Zwar mussten einige Minister abtreten. Erdogan bezeichnete die Anschuldigungen jedoch als Verschwörung der radikal-islamischen Gülen-Bewegung. Er behinderte die Untersuchung und entliess deshalb sogar Polizisten.
Präsidentschaft und Wahlwiederholung (2014-2015)
Die wirtschaftliche Lage der Türkei verschlechterte sich zunehmend. Der Krieg in Syrien hielt an und beeinflusste die Situation im Nachbarland Türkei: Einerseits waren inzwischen über eine Million SyrerInnen in die Türkei geflüchtet. Andererseits nahm die Macht der kurdischen Milizen im syrischen Krieg zu – für Erdogan eine Bedrohung. Erdogan liess mehrmals seine Armee in Syrien eingreifen.
Vorerst hielt die Popularität von Erdogan an: er wurde am 10. August 2014 zum Präsidenten gewählt, kontrollierte aber weiterhin die Regierung. Er begann mit der Idee zu liebäugeln, dem repräsentativen Präsidentenamt mehr Macht zu verleihen.
Im Juni 2015 wendete sich die Erfolgsgeschichte der AKP. Erneut wurde sie zwar stärkste Kraft bei den Parlamentswahlen, verlor aber die absolute Mehrheit. Die linksliberale, multikulturelle prokurdische HDP wurde zu einer neuen Kraft im Parlament. RaBe sprach mit Hasim Sancar über die historischen Wahlen:
Erdogan akzeptierte das Wahlresultat nicht und kündigte Neuwahlen im Herbst 2015 an. Kurz danach begann eine Einschüchterungskampagne gegen die Opposition. Kritische Medienschaffende und oppositionelle PolitikerInnen wurden zum Teil verhaftet. Ihnen wurde vorgeworfen, Kontakte zur verbotenen PKK zu unterhalten. Bei den Neuwahlen gewann Erdogans AKP die Mehrheit zurück.
Putsch und Referendum (2016-2017)
Inszeniert oder nicht – in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 kam es zu einem Putschversuch gegen Erdogan. Teile des Militär rebellierten gegen Erdogan – ohne Erfolg. Erdogan hatte nun einen gewichtigen Vorwand, seine politischen GegnerInnen auszuschalten. Zehntausende Menschen wurden verhaftet, unter dem Vorwand, sie seien für die Gülen-Bewegung tätig oder unterstützten kurdische RebellInnen. Ganze Dörfer im kurdisch-dominierten Teil der Türkei wurden unter Beschuss genommen.
Erdogan wurde immer emfpindlicher auf Kritik – auch, wenn sie von Aussen kam – wie zum Beispiel in einem satirischen Beitrag im NDR, der Erdogan dazu brachte, offiziell bei der deutschen Regierung zu protestieren:
Die Menschenrechtslage verschlechterte sich zunehmend. Im November liess Erdogan 375 Nichtregierungsorganisationen schliessen. Reto Rufer von Amnesty International erklärte die Situation damals auf RaBe:
Die Kritik von Seiten der EU und der Schweiz hielt sich in Grenzen. Erdogan hatte nämlich mit der EU einen Flüchtlingsdeal gemacht. Er versprach, geflüchtete Menschen aus Syrien, dem Nahen Osten und Zentralasien nicht weiter reisen zu lassen. Dafür gewährte ihm die EU Milliardengelder – und hielt sich still. Für RaBe analysierte wiederum Hasim Sancar die Lage im Herbst 2016:
Einige HDP-PolitikerInnen flüchteten, um einer Verhaftung zu entgehen. So auch der ehemalige Abgeordnete Demir Çelik, der in der Schweiz einen Asylantrag stellte. Er besuchte RaBe im Studio und erzählte, warum er geflüchtet war:
Am 16. April 2017 lässt Erdogan nun abstimmen, ob die Türkei neu zu einer präsidialen Republik mit eingeschränkter Macht für Parlament und Justiz werden soll. Sowohl die BefürworterInnen als auch die GegnerInnen der Verfassungsänderung mobilisieren im Moment – auch ausserhalb der Türkei. In Deutschland, in der Niederlande, in Österreich und in der Schweiz leben viele Menschen mit türkischen Wurzeln – und türkischem Pass.
Der grüne Berner Politiker Hasim Sancar – mit türkisch-kurdischen Wurzeln – sprach mit RaBe über die Situation seiner Landsleute in der Schweiz:
Eine Entscheidung fällt das Stimmvolk – auch bei einem NEIN ist anzunehmen, dass Erdogan an seiner Macht festhalten wird. Eine einfache Erklärung, warum sich Erdogan derart vom Demokraten zum autoritären Präsidenten gewandelt hat, gibt es nicht. Mehrere Faktoren könnten diesen Sinneswandel begünstigt haben. Macht verändere den Menschen, schreiben zum Beispiel das Spektrum der Wissenschaft und die FAZ. Demütigungen in der Jugend und in der beruflichen Laufbahn begünstigten den Machthunger von Menschen wie Putin und Erdogan, schrieb Cigdem Akyol in der NZZ. Der geflüchtete türkisch-kurdische Politiker Demir Çelik sagte im Gespräch mit RaBe, er habe Erdogan von Anfang an nicht getraut – die Demokratisierung in den ersten Jahren der Erdogan-Ära hätten vor allem den Zweck gehabt, das Land für Investoren attraktiver zu machen. Tatsächlich ist die türkische Wirtschaft unter Erdogan enorm gewachsen, allerdings ist sie jetzt ins Stocken geraten. Statt mit Reformen reagiert Erdogan nun mit Gewalt – und gleicht darin immer mehr autoritären Herrschern wie Putin, Assad oder as-Sisi.