…twitterte der abgewählte SVP-Nationalrat… und der frühpensionierte Reitschüler Tom Locher schrieb derweil im neuen Megafon…
TRÄM, TRÄM, TRÄDIRIDI
Als an den Fahnenstangen der Grossen Halle plötzlich eine Schweizer und eine Berner Fahne wehten, wunderten sich einige Leute. „Ob das eine Provoaktion für das nahende „No Borders No Nations“-Festival sein soll, wo die Fahnen dann zu nächtlicher Stunde farbenfroh und unter lautem Jubel verbrannt werden?“ fragte sich einer, während jemand anderes die These aufstellte, das da frisch eroberte Altstadt-Flaggen triumphal der Öffentlichkeit präsentiert wurden, um die alljährliche antinationalistische Fahnenklau=Gratisbier-Saison einzuläuten.
Noch verwunderter waren dann die Leute, als am Tag darauf die Dächer und Mauern der Reitschule total parolen-, graffiti- und transparente-frei waren und alle Fenster meister-propper-putzt-so-sauber-dass-man-sich-drin-spiegeln-kann-mässig in die Welt strahlten. Sommerputz? Vorbereitungen für das herbstliche Jubiläumsfest?
Des Rätsels Lösung folgte gegen Abend, als auf der Schützenmatte die Berner Polizeimusik aufmarschierte und die Berner Kantonspolizei zu den Klängen des Berner Marsches eine Parade abhielt. Kaum war der letzte Ton verklungen, formierten sich die Uniformierten auf dem Vorplatz in Habacht-Stellung. Die Polizeimusik spielte die alte Schweizer Hymne („Heil dir, Helvetia! Hast noch der Söhne ja“) und auf dem Balkon des Dachstockes erschienen festlich gekleidet und gut gelaunt Erich Hess, Nils Fiechter und Adrian Spahr. Erich Hess verkündete den schockierten und irritierten Schaulustigen: „Liebi Froue und Manne. Da jetzt alle diese Reitschule-Chaoten und -Terroristen in dieses G20-Hamburg-Terrornest gefahren sind, haben wir die Gelegenheit genutzt und diesen Sauladen übernommen. Jetzt ist fertig mit diesen veganen Schweinereien, jetzt ist die Wurst wieder Wurst.“ Nils Fiechter fügte an: „Hinten im ehemaligen Infoladen ist jetzt übrigens das neue JSVP-Büro. Ihr könnt dort unter anderem auch die Initiative für das Burkaverbot unterschreiben. Kommt doch bitte vorbei.“ Und Adrian Spahr tat, was er immer tat: Er lächelte in die Kameras.
Und so wurden die einzelnen Räume der Reitschule nach und nach neuen Nutzungen zugeführt. Im Frauenraum richtete sich Alt-Rocker Jimy Hofer mit seiner Broncos Lounge ein, während nebendran im ehemaligen Körperdojo und der Remise West im „Cabaret-Dancing Helvetia“ die letzten Vorbereitungen getätigt wurden für den Auftritt von J.P.Love (feat. Erich Hess & Thomas Fuchs). Im Kino und der Holzwerkstatt wurden die beiden letzten Stadtberner Kitag-Kinos eingepfercht. Die Grosse Halle wurde in „Young Boy Bieber Event Hall“ umgetauft und das Konzept den Bedürfnissen kreischender Teenies angepasst. Im Rössli machte sich das „Yuppies Sport Café“ breit, während im Sous le Pont bereits die Speisekarten für das 4-Sterne-Gourmet-Lokal „Chez Nestlé & Monsanto“ entworfen wurden. Aus dem Vorplatz entstand eine streng genormte Freifläche für flanierende Passant_innen, während der Skatepark mit Wasser geflutet und mit Seerosen bepflanzt wurde.
Im Dachstock testeten unterdessen Francine Jordi und Beatrice Egli die Mikrofone, denn heute war der grosse Tag: Ein Konzert mit dem Stargast Helene Fischer im Duett mit dem Rockmusiker Gölä war angesagt und es gab noch viel zu tun. Aus der Druckerei wurde ein CopyQuick, aus dem Tojo-Theater die Motorradwerkstatt der Broncos Lounge (Töff Garage „Rockerslust“) und die Cafete wurde von der esoterischen Fraktion innerhalb der PNOS in die patriotische Barfussdisco „Eidgenossistan“ verwandelt. Aus der Wohngemeinschaft im zweiten und dritten Stock wurde eine zweistöckige Attikawohnung für gutbetuchte Expats mit Hang zu exzentrischen Wohnlagen. Und in die Büros und Sitzungsräume im 1. Stock kam was noch fehlte: Eine Migros-Filiale.
Radio Bern 1, Energy Bern und TeleBärn berichteten im Stundentakt und Bund und BZ Online wetteiferten um die Statements von Politiker_innen und Expert_innen. Währenddessen standen der Grossteil der Stadt und der halbe Kanton unter Schock. Das soll es gewesen sein? Nie mehr Reitschule, nur noch rechtsbürgerlicher Kommerzscheiss? Verzweifelt und wütend sammelten sich immer mehr Menschen auf der Lorrainebrücke und auf der Grossen Schanze, wurden aber von einem starken Polizeiaufgebot zurückgehalten. Einzig Radio RaBe berichtete live von den Protesten, verteilte Gratisradios und schaltete einen Livestream auf Facebook. Im Sääli der Brasserie Lorraine bildete sich ein Widerstandskomitee aus verschiedensten politischen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen, dass die Protestaktionen miteinander vernetzte.
„Psst… Seid mal ruhig…“ tönte es Stunden später im mit Menschen gefüllten Lorrainepärkli. „Die vom RaBe wollen was sagen…“ Die Sprecherin räusperte sich: „Okey Leute, wir haben eine gute Nachricht: Si chömmä zrügg…“ Jubel ertönte im Lorraine-Pärkli. „Und sie kommen nicht nur zurück, sie bringen auch Verstärkung mit. Etwa 100’000 Leute, die auch an den G20-Protesten in Hamburg waren, haben sich ihnen angeschlossen. Ein riesiger Zug- und Autokonvoi ist unterwegs von Hamburg nach Bern…“ Der Jubel wurde lauter. „Und das ist noch nicht alles. In Libyen haben Tausende Refugees die Schiffe der Küstenwache und von Frontex gekapert und sind Richtung Italien unterwegs. Auch sie kommen nach Bern um uns zu unterstützen…“ Der Jubel aus dem Lorrainepärkli war jetzt selbst bei den Leuten auf der Grossen Schanze zu hören, die das Radio-RaBe-Info ebenfalls verfolgt hatten. Im Nordquartier und in der Länggasse wurden die letzten Vorbereitungen getroffen. Bald sollte es soweit sein…
„REITSCHULE-CHAOTEN: DAS GAB’S NOCH NIE! 100 KM LANGER ZÜGE-KONVOI WILL IN DIE SCHWEIZ!“ titelte Blick Online und liess auch den etwa gleich langen Auto-Konvoi nicht unerwähnt. Die Drähte zwischen den Schweizer und deutschen Behörden liefen heiss, die jeweiligen Botschafter wurden einbestellt, die SVP verlangte einen Grenzeinsatz der Armee und die Chefstrateg_innen von Polizei und Grenzwachtkorps sassen über Karten und wühlten in Konzepten. Es nutzte alles nichts. Die beiden Konvois mussten angesichts der normativen Kraft des Faktischen bedingungslos durchgelassen werden.
Um etwa sechs Uhr morgens trafen die Spitzen der beiden Konvois in Bern ein, deren Enden gerade erst die Grenze bei Basel erreicht hatten. Im Bahnhof hielten die vielen Züge im Minutentakt, immer mehr Leute stiegen aus, begrüssten die Menschen die in Bern ausgeharrt hatten. „Die Leute aus Libyen haben gerade mit ihrem Züge-Konvoi Bümpliz passiert“, meldete die Radio RaBe-Sprecherin. Die Polizeitruppen zogen sich langsam zurück, die Leute aus der Lorraine, von der Länggasse und die frisch Angekommenen aus Hamburg und Libyen fielen sich auf der Schützenmatte in die Arme. Die ganze Stadt füllte sich mit Menschen.
Als alle sich begrüsst und umarmt hatten, Speis und Trank organisiert und die Lage analysiert war, wandten sich die Menschen der Reitschule zu. Von den frisch „Eingezogenen“ seien eigentlich nur noch Erich Hess, Nils Fiechter und Adrian Spahr übrig, die anderen hätten längst über die Notausgänge das Weite gesucht, vermeldeten Beobachter_innen. Jemand stiess das Grosse Tor auf. Die drei Genannten standen im Innenhof und schauten betreten auf den Boden. Letzterer ächzte, stöhnte und stiebte, öffnete sich und verschluckte die drei.
Seither – quasi als Kollateral“schaden“ und als Andenken an den sehr kurzen Sommer des Anti-Anarchismus – gibt es dort jetzt den Reitschule-Keller. Kein Scheiss – geh doch selber schauen, wenn Du es nicht glaubst…
Aus: Megafon Nr. 421 Juli 2017, Megafon-StattBlick, Die Kolumne von + für frühpensionierte Reitschüler_innen
Bestellen unter megafon@reitschule.ch.
PS: Der Beitrag von Tom Locher befand sich bereits im Druck, als Christoph Mörgeli den Reitschulbesetzungsaufruf twitterte.
Das RaBe-Info macht bis am 13. August 2017 Sommersendepause – im Summerspecial publiziert das RaBe-Info während den Sommerferien regelmässig Online-Beiträge zu verschiedenen Themen.