Es ist das wohl neoliberalste Land der Welt. In Chile wurden in den vergangenen Jahren unzählige Dienstleistungen privatisiert: Das Bildungswesen und die Altersrenten. Das Gesundheitssystem, die Strom- und Wasserversorgung. Alles wurde den Regeln des Marktes unterworfen, mit verheerenden Folgen. Die Lebenshaltungskosten in Chile sind heutzutage vergleichbar mit denjenigen in Europa. Jedoch verdient die Hälfte der Menschen weniger als 500 Franken im Monat. Chile ist der OECD-Staat mit der grössten sozialen Ungleichheit: Ein Prozent der Bevölkerung kontrolliert ein Drittel des Reichtums.
Als die Regierung 2019 den Ticketpreis für den öffentlichen Verkehr anhob, entlud sich die Unzufriedenheit auf der Strasse. Proteste eskalierten im ganzen Land, die Regierung reagierte mit einem Militäreinsatz und Repression. Amnesty International verzeichnete damals etliche Menschenrechtsverletzungen durch die chilenischen Behörden. Doch die Forderung nach einer Verfassung verfing: Am 25. Oktober 2020 stimmten mehr als 78% der chilenischen Wähler*innen dem Vorschlag zu, die nationale Verfassung neu zu schreiben.
Der Verfassungskonvent, dem diese Aufgabe zukam, wurde vom Volk gewählt. 155 Personen aus Politik und Zivilgesellschaft arbeiteten am neuen Grundgesetz. «Viele Unabhängige konnten sich am Prozess beteiligen. Es gab Mandate für Indigene und eine geschlechterparitätische Zusammensetzung. In der Folge war der Verfassungskonvent im Gegensatz zum Parlament viel weiblicher, ethnisch diverser und jünger», erklärt Claudia Zilla, Politikwissenschaftlerin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin
Heute fand die Arbeit des Konvents nun ihren Abschluss: Die neue Verfassung steht und ist dabei erstaunlich progressiv. Wird sie im September von der chilenischen Stimmbevölkerung angenommen, so verabschiedet sich das südamerikanische Land vom Turbo-Neoliberalismus. Der Naturschutz erhält ein viel stärkeres Gewicht, ebenso wird die indigene Bevölkerung anerkannt.
Am 4. September wird in Chile die Abstimmung zur neuen Verfassung stattfinden. Wird sie verworfen, so bleibt diejenige in Kraft, die der Diktator Augusto Pinochet 1980 verabschiedet hatte.

