Im heutigen RaBe-Info gehen wir der Frage nach, was die türkische Militäroffensive für die mehrheitlich kurdische Bevölkerung in Rojava bedeutet, welche dort in den vergangenen Jahren eine stabile Gesellschaft mit basisdemokratischen Strukturen auf die Beine gestellt hat. Dann befassen wir uns mit Filmperlen aus dem uferlosen Archiv der Berner Kinemathek, wo am kommenden Wochenende der tausendste Lichtspiel-Sonntag über die Leinwand flimmert. Und wir portraitieren das neue Buch «Druffä» von Roland Reichen und Jonathan Liechti welches in Bild und Schrift den Alltag eines Schwersüchtigen in Bern dokumentiert.
Die türkische Offensive auf Nordsyrien
Vor rund einer Woche startete die Türkei ihren Angriff auf Rojava, den de-facto autonomen, kurdisch geprägten Teil Nordsyriens. Seit sich das syrische Militär 2012 aus dieser Region zurückgezogen hatte, organisierte sich die lokale Bevölkerung nach basisdemokratischen Prinzipien. Es gibt Räte auf lokaler und regionaler Ebene, alle Bevölkerungsschichten sind dabei paritätisch vertreten. Feminismus und Ökologie sind zentrale Werte in Rojava und so gilt das Experiment, welches in Nordsyrien seit mehreren Jahren erfolgreich gelebt wird, oft als Vorzeigebeispiel für eine bessere Gesellschaftsordnung.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bezeichnet die kurdischen Kämper*innen der YPG-Miliz jedoch als Terrorist*innen, für ihn ist klar: Die Kurden müssen weg. Geht es nach ihm, so soll entlang der türkischen Grenze in Nordsyrien eine sogenannte Sicherheitszone eingerichtet werden. Darin will er geflüchtete Menschen ansiedeln, welche zurzeit noch in der Türkei weilen.
Diesen Plan bezeichnet Kerem Schamberger als „ethnische Säuberung“. Erdoğan gehe es um die Zerschlagung jeglicher kurdischer Selbstorganisation und um die Realisierung einer neo-osmanischen Staatserweiterung, so der Autor des Buches Die Kurden.
Die Sanktionen, welche verschiedene europäische Länder verhängt haben, bezeichnet Schamberger als Papiertiger. Der Stopp von Waffenlieferungen habe kaum Einfluss auf die Kriegshandlungen in Rojava, da die türkischen Rüstungsbestände gut gefüllt seien. Ausserdem würde die Türkei 80% ihres Kriegsmaterials selbst herstellen. Ein entsprechendes Embargo habe also kaum Konsequenzen und diene in erster Linie dazu, die eigene Bevölkerung zu beruhigen, so Schamberger im Interview.
Ein Film über das basisdemokratische Rojava:
1000. Lichtspiel-Sonntag
Zum 1000. Mal geht diesen Sonntag der Lichtspiel-Sonntag mit Filmperlen aus dem Archiv der Kinemathek Bern im Marzili über die Bühne. Das Archiv birgt über 25 000 Stumm-, Schwarzweiss-, und Farbfilme aus dem ganzen letzten Jahrhundert, von ganz unterschiedlichen Quellen, von Schul-, Werbe- und Trickfilmen über Familienfilmen von Dachböden und Kellern bis zu Privatsammlungen.
Ins Leben gerufen wurde der Lichtspiel-Sonntag als die Kinemathek im Jahre 2000 eine kinotechnische Sammlung übernehmen durfte und nach einem Weg suchte, die Filmschätze dem Publikum zugänglich zu machen. Seither gibt es jeden Sonntagabend Kurzfilme zu einem bestimmten Thema, wie betrunken, Spionage, Motoren oder Geister. Anfangs hätten sie einfach das gezeigt, was sie unter der Woche beim Aufräumen gefunden hätten. Inzwischen aber könnten sie aus dem vollen Schöpfen, sagt Lichtspiel-Leiter David Landolf, wobei es immer wieder zu Überraschungen komme.
«Druffnige» sind mehr als ihre Sucht
In den 90er-Jahren waren Drogensüchtige in der Stadt Bern kaum zu übersehen: Im Kocherpark gab es eine offene Drogenszene und Menschen, die sich in aller Öffentlichkeit einen Schuss setzten, waren allgegenwärtig. Heute sind Junkies praktisch aus dem Stadtbild verschwunden. Aber es gibt sie noch. Mit ihrem Buch «Druffä» rücken Schriftsteller Roland Reichen und Fotograf Jonathan Liechti das Leben und persönliche Schicksal eines Rauschsüchtigen ins Zentrum. Dabei handelt es sich um Roland Reichens älterer Bruder Peter genannt Pit, der seit 25 Jahren harte Drogen konsumiert. In Bild und Wort illustriert «Druffä» den Alltag eines Menschen, dessen Leben von Rausch, «Aff», «mischeln», Beschaffungsstress, Sozialamt und Besuch beim KODA geprägt ist.
Die Gebrüder Reichen und Jonathan Liechti im Interview mit RaBe:
Liechtis ausdrucksstarke Bilder sind mal Detailaufnahmen, mal Porträt, Stilbild oder Streetphotopgraphy, wobei dem Fotografen das Kunststück gelingt, intimen Einblick in ein Lebens zu gewähren, ohne dabei voyeuristisch oder wertend zu sein. Wir sehen Pit mit glasigen Augen in der sterilen Abgabestelle eine Spritze aufziehen, wir sehen das Durcheinander in seinem Zimmer in der betreuten WG und wir sehen ihn am Bahnhof beim Münzschnorren. Wir sehen Pit aber auch beim Besuch seiner Eltern oder am Grab seiner Freundin, beim Einkaufen mit der Mama, beim Essen mit seinem Bruder, beim Schläfchen auf dem Familiensofa oder beim Minigolf.
Die Stationen, welche Jonathan Liechti in seinen Bildern zeigt, werden auch in den Texten von Roland Reichen aufgenommen. In 18 kurzen Episoden nimmt uns Reichen mit in die Anfänge der Drogensucht seines Bruders, ins Jahr 1992, als Pit verliebt war in ein Mädchen, das Heroin schnupfte und es darum selber probieren wollte. In Kapiteln wie « Der Aff» oder «Vom Seich, beim Soz zu sein» schildert Reichen aus Pits Perspektive das raue Leben auf der Gasse, wo sich jeder oftmals selber der nächste ist, weil das Bedürfnis nach Betäubung einfach zu gross ist. So verkauft Pit etwa postwenden den Trainingsanzug, den er zuvor von der Mama zum Geburtstag geschenkt bekommen hat, für ein bisschen Kokain an der Hodlerstrasse. Im Nachhinein sei er sich natürlich «greuig» gewesen, habe der Mutter die Tat gestanden und ihr den Trainer von seinem Sozgeld abgestottert.
Pits Episoden werden in einfacher, stark mundartgeprägter Sprache wiedergegeben, wie sie zum Markenzeichen des Roland Reichen geworden ist. Dadurch wird einerseits Authentizität erzeugt, zum anderen schafft die Lakonie der simplen Ausdrucksweise manchmal eine gewisse Komik, die in wohltuenden Kontrast zum geschilderten Inhalt steht.
Es ist ein starkes Buch, das Roland Reichen und Jonathan Liechtig mit «Druffä» herausgegeben haben. Reichens Texte und Liechtis Bilder sind respektvolle Sozialstudie einer stigmatisierten Gruppierung unserer Gesellschaft und rücken ins Zentrum, was sonst oft vergessen geht: «Druffnige» sind mehr als nur ihre Sucht. Es sind Menschen mit Träumen, Hoffnungen, Gefühlen und Familienangehörigen.
«Druffä» Buchtaufe, 17. Oktober 2019, 19 Uhr, Dreigänger