Heute im RaBe-Info: Weshalb die schrittweise Lockerung des Bundesrats der Berner Kulturbranche zu schaffen macht, warum die Protagonisten des Berner Schriftstellers Roland Reichen „uf dr Strecki“ geblieben sind und woran der Spitalalltag im Pariser Spital Saint-Louis erkrankt ist.
Podcast der ganzen Sendung:
Grosse Ungewissheit in der Kulturbranche
Seit einer Woche befindet sich die Schweiz auf dem Weg zurück in den Alltag. Gartencenter, Baumärkte und Coiffeursalons haben ihren Betrieb mittlerweile wieder aufgenommen – wenn auch unter strengen Auflagen. Am kommenden Montag folgt nun die nächste Lockerung: Ab dann dürfen auch Läden, Restaurants, Museen und weitere Institutionen wieder geöffnet haben. Entsprechend gross ist die Erleichterung bei den zuständigen Betreibern und den Angestellten. Doch nicht alle können sich glücklich schätzen.
Vor allem in der Kulturbranche herrscht nach wie vor sehr viel Ungewissheit. Aufgrund des anhaltenden Versammlungsverbots sind kulturelle Veranstaltungen wie Theateraufführungen oder Konzerte noch bis mindestens Ende Monat verboten. Grossveranstaltungen mit mehr als 1000 Personen sind sogar erst ab Anfang September wieder erlaubt. Das macht es schwierig Veranstaltungen zu planen und genau das gefährdet die Kulturinstitutionen letztendlich auch in ihrer Existenz.
Fest steht: Das Jahr 2020 wird den Berner Kulturschaffenden wohl noch lange in Erinnerung bleiben. Seit über 6 Wochen können sie keine Veranstaltungen mehr durchführen und vieles deutet darauf hin, dass dies auch noch ein Weilchen so bleiben wird. Versammlungen mit über 5 Personen sind voraussichtlich erst ab Anfang Juni wieder erlaubt und wie es danach weitergeht, steht derzeit in den Sternen. Kulturinstitutionen wie etwa das ONO in der Berner Altstadt oder die Reitschule sehen sich deshalb mit grossen Herausforderungen konfrontiert.
Anti-Heimatliteratur: «Auf der Strecki»
Roland Reichen arbeitet hauptsächlich als Germanist an der Universität Bern, wo er sich mit Texten von Jeremias Gotthelf beschäftigt. Der 46-Jährige ist aber auch als Schriftsteller tätig; nach Aufgrochsen (2006) und Sundergrund (2014) ist soeben sein drittes Buch Auf der Strecki erschienen. Was sich darin abspielt, hat so gar nichts mit heiler Gotthelf-Welt zu tun, sondern ist vielmehr ein Stück Anti-Heimatliteratur.
Hörprobe Auf der Strecki gelesen von Roland Reichen:
Er wolle der Leserschaft einen Einblick in das Leben von Leuten gewähren, die in der Schweiz am Rande der Gesellschaft lebten, sei es aufgrund von Armut, Suchtproblemen oder psychischen Problemen, sagt Reichen. Entsprechend montierter er in Auf der Strecki verschiedene Erzählstränge parallel, wobei deren Protagonist*innen tatsächlich alle irgendwie versehrt und auf der Strecke geblieben sind. Viele der Episoden basierten auf wahren Begebenheiten, die sich in seinem engeren oder weitern Umfeld ereignet hätten.
Da wäre etwa der Filterli-Junky Serge, der seine Freundin auf den Drogenstrich begleitet, obwohl dieser nach einer Operation im Inselspital Schläuche aus dem Hals ragen. Oder da ist Sami, der als Baby von der Wickelkommode fiel und dessen Eltern ihm auch im 25. Lebensjahr immer noch das Sackgeld rationieren. Oder da ist das Müeti, das wegen psychischen Problemen in die «Geschlossene» muss.
Reichens Text strotzt vor Dialekteinschüben, so dass sich am Ende von «Auf der Strecki» ganze 16 Seiten Glossar finden. Die Sprache holpert, scheppert und verstösst gegen die Normen der Standardsprache, genau so, wie auch die Protagonist*innen des Buches gegen gesellschaftliche Normen verstossen. Daneben sorgt die lädierte Sprache auch für eine gewisse komische Distanz, um die man froh ist,wenn das Treiben der Figuren dann doch gar zu aberwitzig und abgründig wird.
Roland Reichen im Interview mit RaBe:
Wir haben hier über Reichens letztes Projekt berichtet: Das Fotobuch «Druffä»
Burning Out: Spital im Ausnahmezustand
Sieben Abgänge von Angestellten innerhalb zwei Jahren, 14 Krankmeldungen im laufenden Jahr – Im Pariser Spital Saint-Louis kranken nicht nur die Patient*innen, sondern auch die Arbeitsbedingungen. Das zeigt der neue Dokumentarfilm «Burning Out» des belgischen Regisseurs Jérôme le Maire, der zwei Jahre lang die Belegschaft des Saint-Louis mit seiner Kamera begleitet hat.
Das Saint-Louis gehört zu den grössten Krankenhäusern in Paris. Auf einem Stockwerk liegen 14 Operationsäle nebeneinander, worin täglich acht bis zehn Eingriffe vorgenommen werden. «Burning Out» zeigt einen Spitalalltag, der von enormem Stress, Frustration und emotionalen Auseinandersetzungen geprägt ist. Die Operationen sind eng getaktet, alles soll möglichst Schlag auf Schlag erledigt werden, wobei der menschliche Aspekt sowohl bei den Spitalangestellen als auch bei den Patient*innen in den Hintergrund gerät.
Um auf die prekären Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen, treten die Angestellten des Spitals Saint-Louis in Streik. Die folgenden Verhandlungen zeigen: Auf der einen Seite stehen die Chirurg*innen, Anästhesist*innen, Krankenschwestern und -Pfleger, welche humane Arbeitsbedingungen fordern, damit sie ihren Job gewissenhaft erledigen können. Auf der anderen Seite stehen Führungskräfte, Manager*innen und Direktor*innen, die einen wirtschaftlich funktionierenden Betrieb wollen, wobei jede Operation Geld bedeutet.
«Burning Out» zeigt eindrücklich die Heraus- und Überforderungen, mit denen ein Krankenhausbetrieb täglich konfrontiert ist. Dabei funktioniert das Spital Saint-Louis und mit ihm gleichzeitig alle anderen Spitäler als Spiegel unserer Gesellschaft – ein Spiegel, in den man nicht nur in Zeiten einer Corona-Pandemie dringend und selbstkritisch blicken sollte.
Audio-Beitrag zum Film:
«Burning Out» kann hier online geschaut werden. Exklusiv zum Filmstart gibt’s am Montag 4. Mai von 20 – 21 Uhr eine Live-Sendung mit Pierre-Yves Maillard, dem Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, der 15 Jahre lang das Departement für Gesundheit und Fürsorge leitete. Alle weiteren Infos gibts hier.