Am 29. November wählen die Berner Stimmbürger*innen ein neues Parlament. Für den Stadtrat kandidieren insgesamt 532 Personen auf 19 unterschiedlichen Listen. Die Chancen gewählt zu werden stehen dabei gar nicht so schlecht, schliesslich müssen im Stadtrat insgesamt 80 Sitze besetzt werden. Im Rahmen unserer diesjährigen Wahlserie stellen wir euch noch bis am 6. November jeden Tag eine Stadtratskandidatin oder einen Stadtratskandidaten vor. Dabei lassen wir alle 15 Parteien, die bereits im Stadtrat vertreten sind, zu Wort kommen. Damit das ganze ein wenig abenteuerlich bleibt, treffen wir die Kandidierenden jeweils dort, wo sie einen Missstand zu beklagen haben – Ein «Unort» sozusagen.
Mit Laura Binz von der SP im Ostring
Autos, Strassen und Beton soweit das Auge reicht. Mittendrin ein paar armseelige Bäumlein, die so verloren und fehlplatziert wirken, dass es einem schon fast wieder leid tut. «Der Berner Ostring ist ein wahrer Unort», findet Laura Binz, die seit 2018 für die SP im Stadtrat politisiert und regelmässig im Ostring einkaufen geht. Die Gestaltung des öffentlichen Raums und eine nachhaltige Mobilität sind Kernthemen der Historikerin. «Im Ostring muss es wieder möglich sein, draussen zu verweilen», fordert sie und übt scharfe Kritik an der Autobahn die hier mitten durchs Quartier verläuft.
Mit Monique von Graffenried-Albrecht von der FDP am Helvetiaplatz
Der Unort von Monique von Graffenried-Albrecht ist der Helvetiaplatz. «Wir haben hier eine ungute Situation und Konflikte in verkehrstechnischer Hinsicht». Die FDP-Kandidatin ist oft mit dem Velo unterwegs, neben Verkehrspolitik sind ihr aber auch gute Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Gewerbe ein Anliegen. «Es muss interessant sein, in der Stadt Bern ein Geschäft aufzubauen und zu führen», erklärt sie im Interview mir RaBe.
Mit Esther Wermuth von der GFL im Rabbental
Der Unort von Esther Wermuth (Grüne Freie Liste) ist das Rabbental, also das Gebiet zwischen Altenbergquartier und Salemspital. «Ich möchte eigentlich lieber eine «Unart» als einen Unort thematisieren», erklärt sie. Für Wermuth ist es unverständlich, dass manche Bewohner*innen bei jeglichen Projekten auf der Schützenmatte oder in der Nägeligasse in die Fundamentalopposition gehen und jeweils Lärmklagen einreichen.
Die GFL-Kandidatin ist Dozentin für Soziale Arbeit an der Berner Fachhochschule und Mediatorin. Sie möchte den Dialog zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen fördern und sich einsetzen für Partizipationsprojekte. «Vielleicht werden so auch Lösungen gefunden, die von verschiedenen Seiten getragen werden können», sagt sie im Interview mit RaBe.
Mit Eva Gammenthaler von der AL beim Berner Rathaus
Der Unort von Eva Gammenthaler (Alternative Linke) ist nicht etwa ein optischer Unort, sondern eher ein symbolischer. «Ich möchte nicht einen bestimmten Ort verbessern oder verändern, sondern ich möchte die Politik grundsätzlich umkrempeln. Daher habe ich mich für das Berner Rathaus entscheiden», erklärt sie. Für Gammenthaler ist klar, dass es einen radikalen gesellschaftlichen Wandel braucht. Konkret ist es ihr ein Anliegen, dass alle Bewohner*innen der Stadt Bern mitbestimmen können, indem sie ein bedingungsloses Wahl- und Stimmrecht erhalten. Dies sei derzeit nicht der Fall, kritisiert sie.
Die AL-Kandidatin ist beruflich bei der kirchlichen Gassenarbeit tätig und konnte 2019 in den Stadtrat nachrutschen. In der Kommunalpolitik sieht sie die besten Möglichkeiten, um soziale Gerechtigkeit auf politischem Weg durchzusetzten. «Gute Infrastrukturen, Bildung, Wohnraum, Nahrung sowie Gesundheit, sind Grundrechte und sollten allen Menschen zur Verfügung stehen», betont sie im Interview mit RaBe.
Mit Zora Schneider (PdA) vor dem Asylzentrum in der Länggasse
Die amtierende Stadträtin Zora Schneider von der Partei der Arbeit PdA hat die Asylunterkunft in der Länggasse als ihren persönlichen Unort ausgewählt. Zwar begrüsst Schneider es, dass infolge der Neustrukturierung des Asylwesens auf kantonaler Ebene seit diesem Sommer nun die Stadt Bern für die Unterbringung, Betreuung und Integration von Asylsuchenden zuständig ist und somit auch das Stadtparlament hier vermehrt Einfluss nehmen kann. Gleichzeitig kritisiert Schneider die Stadt Bern für ihren Entscheid, den Asylbereich kostenneutral zu gestalten, sprich zusätzlich zu den kantonalen Pauschalen keine finanziellen Mittel aufwenden zu wollen. An Möglichkeiten, mehr zu tun im Asylbereich, fehle es sicher nicht, so Zora Schneider, wenn es an etwas fehle, dann sei es an politischem Willen.
In ihren vergangenen vier Amtsjahren hat Schneider im Stadtrat diverse Motionen eingereicht, welche Veränderungen im Asylbereich bewirken sollen. Unter anderem möchte sie die Grundrechte von Geflüchteten auf Wohnen, Bildung, Gesundheit und Bewegungsfreiheit stärken, den Schutz vor Partner*innengewalt in den Zentren verbessern, oder das straff reglementierte Leben in den Zentren durch Formen der Selbstorganisation ersetzen.
Mit Anna Jegher von der jA! auf dem Bundesplatz
Der Unort von Anna Jegher ist der Bundesplatz. «Das Verbot von Kundgebungen während der eidgenössischen Session bedeutet, dass der Bevölkerung die Möglichkeit verwehrt wird, ihre Anliegen direkt an National- und Ständerat zu tragen», erklärt sie im Interview mir RaBe. Für Jegher ist jedoch die Partizipation an politischen Entscheidungen von allen Bevölkerungsschichten wichtig, gerade für diejenigen, die ungenügend im Bundeshaus vertreten seien. «Für Minderjährige und Menschen ohne Schweizer Pass ist eine Demonstration eine der wenigen Möglichkeiten, wie sie ihre politische Meinung kundtun können», so die Kandidatin der Jungen Alternativen jA!
Mit Niklaus Mürner von der SVP beim Gerechtigkeitsbrunnen
Der Berner Rechtsanwalt Niklaus Mürner von der SVP hat den Gerechtigkeitsbrunnen in der Kramgasse ausgewählt. Mit der Wahl dieses symbolischen Ortes kritisiert Mürner die in letzter Zeit gehäuft auftretenden «Rechtsbrüche des Berner Gemeinderates». Während der Besetzung des Bundesplatzes durch die Klimabewegung habe die Stadtregierung viel zu lange gezögert, den Platz zu räumen, obwohl im Reglement klar festgehalten sei, dass dort während der Parlamentssessionen nicht demonstriert werden dürfe. Zudem kritisiert Mürner, dass die Übermalung des umstrittenen Wandbildes im Schulhaus Wylergut während der Black Lives Matter-Proteste diesen Sommer in Bern ohne jegliche rechtliche Konsequenzen einfach hingenommen wurde, obwohl bereits Pläne bestanden hätten, das Wandbild zu entfernen.
Aufgrund der demokratisch gewählten rotgrünen Mehrheit im Stadtrat liege für die SVP auch künftig nicht viel mehr drin als ein bisschen Opposition zu betreiben, so Niklaus Mürner, mit dem Finger auf Unannehmlichkeiten zeigen und damit nicht aufzuhören.
Mit Frédéric Mader von der JUSO bei der Tankere
Der Unort von Frédéric Mader ist der Eingang zur Nägeligasse 12. «Hier war eigentlich der Jugendclub Tankere geplant. Alle benötigten Lärmgutachten und Baubewilligungen waren vorhanden, trotzdem wurde er wegen Einsprachen zu Fall gebracht», erklärt er im Interview mir RaBe. Ausserdem ist für Mader das Mitspracherecht aller Bevölkerungsschichten wichtig in der Politik. «Die Sicht von queeren Personen, von FLINT (Frauen, Lesben, Inter, Trans; also Menschen, die vom Patriarchat diskriminiert werden) und von People of Colour muss in dieser Stadt stärker gehört werden. Zum Beispiel in der Wohnbaupolitik, die zur Zeit vor allem von einer weissen, männlichen Perspektive aus gemacht wird», so der Kandidat der JUSO.
Mit Therese Streit von der EVP im Tscharnergut
Der Unort von Therese Streit ist der Glockenturm im Tscharnergut, der im Jahr 1964 erbaut wurde und insgesamt ein wenig in die Jahre gekommen ist. In den Augen der EVP-Stadträtin verfügt der Turm über zahlreiche symbolische Motive, die während den letzten Jahrzehnten zunehmend an Glanz verloren haben und damit auch ein Stück weit auch den Zustand unserer Gesellschaft spiegeln. Den leeren Brunnen unterhalb des Turms assoziiert sie beispielsweise mit dem unbändigen Durst der Gesellschaft, der nicht gestillt wird. Und im Bezug auf den Stern, der zuoberst auf dem Turm sitzt meint sie: «Manchmal fehlt uns in der Stadt ein solcher Stern, der uns Hoffnung geben würde, gerade in solch schwierigen Zeiten wie jetzt».
Dem Tscharnergut selbst kann Therese Streit aber durchaus viel Positives abgewinnen. «Dieses Quartier ist sehr lebendig und vielfältig, das gefällt mir. Allerdings ist es, wie auch der Glockenturm, etwas in die Jahre gekommen und da beschäftige ich mich dann auch auf politischer Ebene gerne mit der Frage, was bringt die Zukunft für ein solches Quartier und wie geht es weiter?»
Mit Sibyl Eigenmann von der CVP im Marzili
Sibyl Eigenmann, Präsidentin der CVP Stadt Bern hat das Parkhaus im Marzili ausgewählt. Das private Parkhaus mit rund 300 Abstellplätzen steht relativ versteckt neben dem Bundesamt für Justiz an der Brückenstrasse, welche bei der Marzilibahn nach rechts abbiegt. Das Parkhaus gehört dem Bund und wird laut Sibyl Eigenmann insbesondere von Bundesbeamt*innen genutzt. Unter der Woche sorge es im Quartier für beträchtlichen Durchgangsverkehr, während es am Wochenende stets leer stehe. Mitten im Wohnquartier ein Parkhaus zu betreiben, erachtet Sibyl Eigenmann aufgrund der städtischen Pläne, das Marzili zur flächendeckenden Begegnungszone zu erklären, als Stolperstein inmitten der verkehrsberuhigenden Strategie. 7 Gehminuten vom Bahnhof entfernt brauche es kein Parkhaus.
«Das Betonmonster» abzureissen, sei wohl zu aufwändig. Was sie jedoch begrüssen würde, seien kleinere Massnahmen, zum Beispiel das Parkhaus zumindest am Wochenende für die Quartierbevölkerung zu öffnen, zum Skaten oder Fahrrad fahren für Kinder oder «um auf der Dachterrasse auf dem Liegestuhl zu liegen, zu grillieren und die wunderbare Aussicht aufs Bundeshaus zu geniessen.»
Mit Natalie Bersch von der GLP beim Bubenbergdenkmal am Hirschengraben
Stadtratskandidatin Natalie Bertsch von der Grünliberalen Partei GLP treffen wir beim Bubenbergdenkmal. Rein optisch hat sie am Denkmal und am Ort nichts auszusetzten. «Mich stört jedoch, dass Statuen wie diese fast überall Männer sind», erklärt sie ihre Unort-Wahl im Gespräch mit RaBe. Sollte sie in den Stadtrat gewählt werden, will sie sich für mehr Frauenstatuen und vor allem mehr Frauen in den verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Gremien einsetzen.
Mit Simone Machado von der GaP beim Hirschengraben
Die Berner Juristin Simone Machado von der Grünalternativen Partei GaP hat den Hirschengraben ausgewählt, welcher im Rahmen des geplanten neuen Bahnhofzugangs komplett umgestaltet wird. Besonders stört sich Machado an den im Projekt vorgesehenen, laut ihr überdimensionierten unterirdischen Velostation, welche 33 Millionen Franken kosten soll, und dass die 23 Kastanienbäume gefällt werden sollen, welche derzeit den Hirschengraben zieren. In Zeiten der Klimakrise sei es unverantwortlich, 80-100 jährige Bäume zu fällen und sie durch klimaresistente Linden in Baumtrögen zu ersetzen. Machado ist der Ansicht, dass man den dringlich benötigten zusätzlichen Zugang zum Bahnhof Bern stattdessen auf der gegenüberliegenden Seite beim Bubenbergplatz 8-12 realisieren könnte.
In einem grösseren Kontext stehe der Hirschengraben symbolisch für die Art und Weise, wie die Stadt Bern neue Bauprojekte zu planen pflege: «Immer wenn die Stadt baut, entscheidet sie sich für Luxusbauten», kritisiert Simone Machado, wodurch noch die letzten Freiflächen der Stadt Bern verschwinden würden. Es sei falsch, sie alle dem neuen Credo zu opfern, die Städte nach innen zu verdichten.
Mit Michèle Stofer von der BDP vor der Reitschule
Der Unort von Michèle Stofer ist sowohl die Berner Reitschule als auch die angrenzende Schützenmatte. Die 29-jährige Stadtratskandidatin der BDP ist überzeugt, dass sich an diesen beiden Orten etwas verändern muss. Allerdings nimmt sie gleich vorneweg: «Ich bin in jedem Fall dafür, dass die Reitschule als Kulturzentrum weiterhin bestehen bleibt». Vielmehr gehe es ihr darum, dass die Reitschule und die Schützenmatten wieder zu sicheren Orten werden. «Die hohe Kriminalität und der Drogenhandel bewirken, dass sich hier nicht alle Menschen willkommen fühlen», betont sie im Gespräch mit RaBe. Einen Lösungsansatz sieht die Kommunikationsspezialistin unter anderem in einer «finalen Nutzung» der Schützenmatte: «Im Gegensatz zur früheren Zwischennutzung sollte diese weniger auf „Lärm“ ausgerichtet sein und dafür verstärkt auch für Familien und ältere Personen attraktiv gemacht werden, beispielsweise in Form eines Parks oder eines Spielplatzes».
Mit Sarah Rubin vom Grünen Bündnis in Oberbottigen
Sarah Rubin vom Grünen Bündnis GB wählte den Stadtteil Oberbottigen am äussersten westlichen Rand von Bern. Der Blick schweift frei über Bauernhöfe und Felder, im Hintergrund thronen die Berge auf der einen und das Westside auf der anderen Seite. Das Naherholungsgebiet der Stadt Bern ist hier jedoch stark von industrieller Landwirtschaft geprägt. Felder mit Monokulturen reihen sich aneinander, kaum unterbrochen von Hecken oder grösseren Bäumen, entsprechend auch von geprägt von einer geringen Biodiversität. Diese Biodiversität auf den landwirtschaftlichen Flächen der Stadt zu fördern, ist laut Sarah Rubin essenziell, da sich die Gesamtanzahl der Insekten beispielsweise seit den 1960er Jahren schweizweit um die Hälfte reduziert habe. Da der Boden dort zumindest teilweise der Stadt gehört, könnte sie unter anderem via Pachtverträge die biologische Landwirtschaft fördern.
Bis heute existiert laut Sarah Rubin auf städtischer Ebene kein umfassendes Konzept zur Förderung der Biodiversität auch in den landwirtschaftlich genutzten Randgebieten. Als Vorbild könnte der Stadt das Projekt das Grüne Band der Gemeinden Köniz und Kehrsatz dienen, welches einen Grünraumkorridor zwischen dem Siedlungs- und dem Landwirtschaftsgebiet vorsieht.
Mit Corina Liebi von der Jungen GLP beim Bordell im Marzili
Corina Liebi von den Jungen Grünliberalen wählte das Gebäude an der Sandrainstrasse 16 im Marzili-Quartier, seit Jahren wird dieses als Bordell genutzt. Im vergangenen Dezember hat die Stadt die Liegenschaft für 600’000 Franken gekauft, seit März ist klar, dass an diesem Standort wieder Wohnungen entstehen sollen. «Die Stadt sollte Räume definieren, an denen Sexarbeit stattfinden darf», kritisiert Corina Liebi die Verdrängung und weist darauf hin, dass es im Stadtrat auch Themen anzusprechen gelte, die wenig angenehm seien. Ausserdem möchte sich die Geschichtsstudentin im Stadtrat gegen Foodwaste und für die Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten einsetzen.